20 Jahre nach dem Verbot des Werkstoffs erreicht die Zahl der Lungenerkrankungen ihren Höhepunkt - besonders viele Fälle in Hamburg.

Hamburg. Für die meisten Menschen in Deutschland ist Asbest kein Problem mehr. Seit 1993 ist der hitzebeständige Werkstoff, der einst als "Material der 1000 Möglichkeiten" gelobt wurde, bei uns verboten und wird nicht mehr verbaut. Doch damit ist das Problem leider nicht vom Tisch. "Mit einer zeitlichen Verzögerung von 25 bis 30 Jahren erleben wir zurzeit einen Erkrankungsgipfel an asbestbedingten Lungenkrankheiten, die nicht selten lebensbedrohend sind", sagt Prof. Xaver Baur, Direktor des Zentralinstituts für Arbeitsmedizin und Maritime Medizin (ZfAM) an der Universitätsklinik Eppendorf. Hamburg ist dabei besonders stark betroffen: von den 9500 Fällen, die jedes Jahr in Deutschland an asbestbedingten Lungenerkrankungen angezeigt werden, entfallen auf die Hansestadt 650 Fälle. "Das ist, verglichen mit seiner Einwohnerzahl, dreimal mehr als der Bundesdurchschnitt - eine Folge der im Schiffsbau intensiv eingesetzten Asbestmaterialien", so Baur.

In den nächsten Jahren werden nach Ansicht von Baur die Zahlen der Asbestgeschädigten auf einem hohen Niveau verharren, denn noch immer erkranken diejenigen, die vor dem Verbot in Deutschland mit Asbest gearbeitet haben. Da es sich dabei fast nur um Berufskrankheiten handelt, unterliegen Diagnostik und Begutachtung arbeitsmedizinischen und berufsgenossenschaftlichen Prozessen, die bisher uneinheitlich und häufig nicht entsprechend dem klinisch-wissenschaftlichen Kenntnisstand erfolgten. Das soll jetzt anders werden. Am ZfAM ist unter Koordination von Baur die neue medizinische Leitlinie "Diagnostik und Begutachtung asbestbedingter Berufskrankheiten" erarbeitet worden. Sie soll dazu beitragen, jahrzehntelange Missstände zu beheben.

Asbestbedingte Erkrankungen, einschließlich der Krebsfälle, führen in Deutschland mit 500 000 offiziell arbeitsmedizinisch registrierten Fällen bei einer geschätzten Dunkelziffer von ein bis zwei Millionen weiterhin die Liste der Berufskrankheiten an. "Obwohl man bereits 1914 wusste, dass Asbest ein Teufelszeug ist, ist man extrem arglos damit umgegangen", sagt Baur. Zwar wurde die Asbestose schon 1936 als Berufskrankheit anerkannt, doch trotzdem wurden bis 1980 in Deutschland jährlich bis zu 200 000 Tonnen Asbest verarbeitet.

Aus arbeitsmedizinischer Sicht steht der Anteil von angezeigten zu bestätigten Berufskrankheiten in einem Missverhältnis. Weniger als die Hälfte der Fälle wird nach gängiger Praxis als Berufskrankheit mit den damit verbundenen finanziellen Konsequenzen anerkannt und Berufskrankheitsrenten bekommt nur jeder zehnte an Asbestose Erkrankte. Bei dem äußerst bösartigen Mesotheliom, einer aggressiven Krebsform, sind es nur zwei Drittel, die eine Rente wegen Berufskrankheit erhalten. Obwohl, wie Baur betont, gar keine andere Ursache als Fasern infrage kommt. Baur sieht als Ursache für diese Diskrepanz die mangelnde Begutachtungspraxis.

Ein Problem ist Weißasbest. Es ist nachgewiesen, dass diese in Deutschland flächendeckend eingesetzte Asbestart sehr schnell in extrem dünne Fasern, sogenannte Mikrofibrillen, zerfällt und eine Halbwertszeit von nur wenigen Wochen hat. Es ist deshalb in der Lunge mit den gängigen Untersuchungsmethoden nicht mehr nachweisbar. Trotzdem hat Weißasbest die gleichen Lungenkrebs auslösenden Eigenschaften wie Blauasbest. Allerdings gilt bei der arbeitsmedizinischen Untersuchung: Wenn keine Asbestfasern nachgewiesen werden, können sie die Krankheit nicht verursacht haben.

Weißasbest wird deshalb als "Fahrerflucht-Asbest" bezeichnet, wie Baur sagt: "Wenn der Fahrer nicht mehr am Unfallort ist, hat er den Unfall nicht verursacht." Eine zentrale Verbesserung, die durch die neuen Leitlinien eintreten soll, ist deshalb die Anerkennung auch der Fälle, bei denen keine Fasern im Lungengewebe nachgewiesen werden können. Die Begutachtung soll dann aufgrund einer umfassenden Anamnese der Arbeitssituationen erfolgen.

Viele Betroffene können nicht mehr nachweisen, dass ihre Lungenerkrankung direkt mit dem Asbest zu tun hat, dem sie vor vielen Jahren, oft Jahrzehnten, ausgesetzt waren. Die neue Leitlinie hält deshalb eine Beweislastumkehr für dringend erforderlich.

Medizinische Leitlinien sind zwar nicht rechtsverbindlich, sie geben jedoch den medizinischen Kenntnisstand wieder, den man vor Gericht einfordern kann - mit recht guten Chancen, wie Baur betont. Für viele kommt die neue Leitlinie möglicherweise noch zur rechten Zeit. Der Klempner und Installateur Dieter Schümann ist 71 Jahre alt und leidet an Lungenfibrose, die durch seine jahrelange Arbeit mit Asbest verursacht wurde. Er muss ständig eine Sauerstoffflasche mit sich führen, denn der Gasaustausch in seiner Lunge ist um die Hälfte reduziert. Ihm wurde eine 40-prozentige Minderung seiner Erwerbstätigkeit bescheinigt. "Eigentlich könnte ich nun etwas beruhigter meine Rentnerzeit erleben, doch das ist nicht so", sagt Schümann. "Die von der Berufsgenossenschaft gezahlte Entschädigung wird von meiner Rente abgezogen." Ihm bleibt nur ein monatlicher Entschädigungsbetrag von 97,44 Euro übrig - Endpunkt eines jahrelangen Kampfes um Anerkennung seiner Berufskrankheit.

Auch um solche Härten in Zukunft zu verhindern, macht sich Baur für die neue Begutachtung von beruflich bedingten Asbestschäden stark. "Mit unseren heutigen wissenschaftlichen und medizinischen Kenntnissen muss es möglich sein, dass den Menschen Gerechtigkeit widerfährt."