Die erste maritime Volkszählung versetzt Forscher in Staunen über die ungeahnte Vielfalt. 6000 der 250 000 Spezies waren zuvor unentdeckt.

London. Es ist eines der größten Forschungsprojekte aller Zeiten. Zehn Jahre lang haben 2700 Wissenschaftler aus 80 Nationen die Weltmeere erforscht. Gestern stellte ein Komitee in London das Endergebnis des Census of Marine Life vor, der ersten "Volkszählung" in den Ozeanen. Das Ergebnis ist spektakulär: Rund 250 000 Spezies listen die Forscher in ihrem Katalog des Meereslebens auf, darunter mehr als 6000 bisher unbekannte Arten, von denen sie rund 1200 ausführlich beschrieben haben.

Und das ist nur ein kleiner Teil des Ozean-Inventars: Insgesamt, so schätzen die Wissenschaftler, sind in den Meeren eine Million höhere Lebensformen zu Hause. Dazukommen noch bis zu eine Milliarde Mikrobenarten. Allein in einem Liter Meerwasser befinden sich 38 000 Mikroben, in einem Gramm Meersand bis zu 9000. Sogar in weniger belebten Regionen des Ozeans, etwa in der Ostsee oder der Region vor Nordost-Amerika, kommen bis zu 4000 verschiedene Tierarten vor.

Die unglaubliche Arten- und Formenvielfalt hat selbst die Experten überrascht und beeindruckt: "Überall, wo wir hingeschaut haben, sind wir vom Leben in Erstaunen versetzt worden", sagte etwa Myriam Sibuet, Vizepräsidentin des wissenschaftlichen Steuerungskomitees der Untersuchung. Als einen der großen Erfolge der Aktion werten die Wissenschaftler, dass die erhobenen Daten nun strukturiert in global zugänglichen Datenbanken eingespeist und bearbeitet werden können. "Vor dem Zensus hatten wir nicht einmal eine simple Liste mit den bekannten Arten des maritimen Lebens. Die Daten waren über die Welt verstreut, der Zugang war begrenzt", sagte Patricia Miloslavich, Wissenschaftlerin aus Venezuela. "Wenn wir uns die Erde als Unternehmen vorstellen, mit der Menschheit als Vorstandschef, dann müssen wir wissen, wer die Angestellten sind."

Die Wissenschaftler haben das gesamte Leben in den Ozeanen untersucht - von der Arktis bis zu den Tropen. Zu den zentralen Ergebnissen gehört auch, dass ein Fünftel aller Spezies in den Meeren Krustentiere wie Krebse oder Hummer sind, 17 Prozent sind Weichtiere wie Tintenfische; erst an dritter Stelle - mit zwölf Prozent - folgen Fische. Ein weiteres Ergebnis der Analyse ist, dass viele Arten in mehr Regionen vorkommen als bisher gedacht. Dass etwa Wale ihr Leben lang durch die Weltmeere wandern, war bekannt. Dass aber etwa der bedrohlich dreinschauende Viperfisch in 25 Prozent aller Ozeane vorkommt, ist neu. Die Forscher nennen ihn den "Otto Normalverbraucher der Weltmeere". Wie solche Tiere es schaffen, unter verschiedensten Lebensbedingungen zurechtzukommen, soll nun untersucht werden.

Der Bericht ist eine Triebfeder für neue Expeditionen, doch zugleich auch eine Mahnung: In allen Meeren, so die Wissenschaftler, seien Überfischung, Verschmutzung und steigende Wassertemperaturen die größten Bedrohungen für die Artenvielfalt - mit regional jeweils unterschiedlicher Bedeutung. Im Mittelmeer etwa seien nur noch drei Prozent der Lebewesen Fische. "Tatsächlich hat der Zensus einen sich verändernden Ozean dokumentiert, der eine größere Vernetzung unter den Meeren zeigt, der mehr vom Menschen beeinflusst ist und der andererseits noch viel weniger entdeckt ist, als wir bisher annahmen", sagte Jesse Ausubel, Mitinitiator der maritimen Volkszählung.

So viel es noch zu entdecken geben mag - in Gänze wird die Menschheit den Artenreichtum der Weltmeere nie erfassen können. "Die Ozeane sind einfach zu groß", sagte die Wissenschaftlerin Nancy Knowlton, die sich für die Studie mit Korallenriffen beschäftigt hat. "Nach zehn Jahren harter Arbeit haben wir nur einen Schnappschuss dessen, was die See enthält."