In der Tiefe des Eismeers stießen Forscher auf eine Sensation: Leben in einer Vielfalt, die wegen der Dunkelheit und Kälte niemand hier erwartet hatte - “eine Wiege des Lebens“. Denn von hier verbreiten sich die Arten sogar in Richtung Norden.

Hier kann es wohl nur wenig Leben geben: in der arktischen Tiefsee, bis zu 6348 Meter unter dem Meeresspiegel, auf kargem Boden, in völliger Finsternis und bei einer Wassertemperatur von gerade mal zwei Grad über dem Gefrierpunkt. Wer lebt hier? Vielleicht ein paar Einzeller? Vielleicht auch eine Handvoll bisher unbekannter Lebensformen?

Die Erwartung der Forscher war eher gering, als sie auf dem Eisbrecher "Polarstern" ins Südpolarmeer aufbrachen. Doch in der unwirtlichen Tiefe des Eismeers stießen die Expeditionsteilnehmer auf eine Sensation, die in den Worten der Hamburger Professorin und Meeresbiologin Dr. Angelika Brandt wie eine unglaubliche Untertreibung klingt: "Wir fanden allein 674 Arten von Asseln, von denen fast 90 Prozent neu für die Wissenschaft sind. Sie müssen noch beschrieben werden." Außerdem in den Fanggeräten der Wissenschaftler: unbekannte Muscheln, Schnecken, Schwämme und Würmer, und auch unter ihnen eine faszinierende Artenvielfalt.

Statt der erwarteten Lebensformen auf Sparflamme entdeckten die Forscher im Südpolarmeer eine vielfältigere Tierwelt als im Flachwasser oder der Tiefsee im Nordatlantik. Wieso ist das eisige Gewässer auf seinem Grund so artenreich?

"Die Arten hatten Millionen Jahre Zeit, sich zu entwickeln", sagt die Meeresbiologin Brandt. Seit mindestens 20 Millionen Jahren gibt es die antarktische Kaltzeit, deutlich länger als am Nordpol. So konnten sich die Lebensformen im Laufe der Evolution den extremen Bedingungen anpassen und zum Beispiel aus den oberen Wasserschichten am Schelfeis neue Arten entwickeln, die auch weiter in der Tiefe noch existieren können.

Ein weiterer Vorteil: Die Wassertemperatur im Südpolarmeer liegt auch bei mehreren Tausend Metern Höhenunterschied fast konstant bei einem bis zwei Grad. Als das Flachwasser vereiste, wie zuletzt vor rund 20 000 Jahren, fanden deshalb viele Arten in tieferen Wasserschichten eine neue Nische.

Wie löst das Leben in der Tiefsee das Problem, sich ausreichend mit Nahrung zu versorgen?

"Von oben kommt beständig Nachschub", erklärt Angelika Brandt. Verendete Tiere, abgestorbenes Plankton, Hautstücke gelangen mit einer Art Wasser-Aufzug schnell nach unten. Auch diese "sehr starke Tiefenwasserbildung" sei eine Besonderheit des Südpolarmeers.

Doch der Wasseraustausch erfolgt nicht nur von oben nach unten. "Tiefenwasser strömt aus dem südpolaren Weddellmeer über den Atlantik auch in Richtung nordpolare Gewässer", sagt Brandt.

Im Zuge dieser Strömung gelangen Organismen und Tiergruppen über Jahrmillionen zum Beispiel in weit entfernt liegende Regionen.

Für Angelika Brandt ist dieses "ein Potenzial einer zoogeografischen Ausbreitung von Süden nach Norden, das man fast als Biodiversitätspumpe bezeichnen könnte". Außerdem hat die Forschergruppe einen "Genfluss von Süden nach Norden" erkannt.

Diese Einbahnstraße erklärt auch, warum es in der Antarktis einige Tierarten gibt, die identisch mit denen in der Arktis sind. Aus der Vielfalt des Lebens im Süden strömt steter Nachschub nach Norden, "das Südpolarmeer ist eine Wiege des Lebens", sagt Brandt.

Und für Nachschub ist gesorgt: 87 Prozent der gefundenen Assel-Arten kommen vermutlich nur im Südpolarmeer vor, sind also "endemisch". Ein Reservoir für neue Arten, ähnlich wie es der Regenwald an Land bietet.

In der Tiefsee, also unterhalb von 800 Metern, leben bizarre Wesen. Wegen der Dunkelheit sind ihre Augen oft unterentwickelt. Es gibt Schwämme, die Krebse verzehren, die sie mittels Klebsekret fangen. Sogar die Asseln, weltweit die bedeutendsten Bewohner der Tiefsee, beeindrucken mit ihrer Arten- und Formenvielfalt. "Manche hielten wir für eine uns bekannte Art", erzählt die Hamburger Wissenschaftlerin. Doch dann entpuppte sich das Exemplar als eine "kryptische Art": äußerlich ein häufiger Vertreter, doch nach genetischer Analyse eine komplett neue Art.

Wie beziehungsweise warum sich neue Arten in diesen Tiefen bilden, liegt weitgehend noch im Dunkeln. "Der Frage der Artbildung wollen wir in weiteren Expeditionen nachgehen", sagt Angelika Brandt. Das Forscherteam aus Hamburg und Bochum hatte jetzt zunächst die Funde des von der Uni Hamburg initiierten "Andeep-Projekts" ausgewertet (Antarctic benthic deep sea biodiversity). Bei drei Fahrten mit der "Polarstern", dem "weltweit besten Forschungsschiff", so Brandt, waren zwischen 2002 und 2005 Proben aus dem sogenannten Weddellmeer und angrenzenden Seegebieten entnommen worden. Von den mehr als 50 Wissenschaftlern an Bord war die Hälfte Frauen. "Das hat sich in den letzten Jahren so entwickelt", sagt Brandt. Die Daten der Forschungsfahrten sind inzwischen ausgewertet und wurden jetzt im Fachmagazin "Nature" veröffentlicht.

Die "Polarstern" ist dafür bestens ausgerüstet. Mit Spezialg-Greifern und Schleppgeräten, die über den Meeresgrund gezogen werden, werden die Organismen eingesammelt. Dazu braucht man viel Erfahrung. Über eine Konstruktion am Heck des Schiffes wird der Bodenschlitten ins Wasser gelassen. Um in knapp 5000 Meter Tiefe den Schlitten über den Boden ziehen zu können, müssen rund 7500 Meter Kabel abgespult werden.

Die Proben werden an Bord zuerst untersucht, dann in Formaldehyd konserviert oder Gewebeteile eingefroren. Auch mikrobiologische Untersuchungen sind möglich.

Aber viele Fragen sind noch offen:

  • Wer frisst wen? Welche Nahrungsbeziehungen gibt es zwischen Plankton und Meeresbewohnern?
  • Wie ist der Tiefseeboden beschaffen und welche Konsequenzen hat seine Struktur auf die Besiedlung durch Organismen?
  • Welchen Einfluss haben Ozon, Kohlendioxid und das Licht auf das Leben im Wasser?
  • Wie entstehen neue Arten?

Die Beantwortung dieser Fragen ist das Ziel einer weiteren Expedition in diesem Internationalen Polar-Jahr. Die "Polarstern" startet am 28. November im Rahmen des Folge-Forschungsprojekts ("Andeep-Systco") wieder in die Antarktis. Bis zum 4. Februar 2008 sind die Forscher im Eismeer. Dort wollen sie dann zum Beispiel den Mageninhalt der Tiere analysieren, den Meeresboden kartieren und genetische Untersuchungen zur Verwandtschaft einzelner Assel-Arten vornehmen.

Angelika Brandt wird wieder dabei sein. Das Eismeer lässt sie nicht los.

Mehr über Ziele und Arbeiten des Teams der Meeresforscherin: 9.6., 19.30-24 Uhr in der Nacht des Wissens, Zoologisches Museum der Uni Hamburg, Ausstellung mit Führungen, Vorträge, Martin-Luther-King-Platz 3

(www.nachtdeswissens.de)