Unterdrückte Sexualität kann zu Konflikten führen. Sind katholische Priester, von denen Enthaltsamkeit verlangt wird, besonders gefährdet?

Der Missbrauchsskandal an mehreren Schulen der Jesuiten in Deutschland hat zu einer Debatte über den Umgang der Kirche mit sexuellem Missbrauch geführt. Welche Rolle spielt dabei die von katholischen Priestern verlangte Ehelosigkeit (Zölibat) und sexuelle Enthaltsamkeit? Sind die Geistlichen dadurch besonders gefährdet? Fördert der Zölibat eventuell sogar vorhandene Tendenzen zum Missbrauch von Kindern und Jugendlichen? Was sagt die Wissenschaft zu diesem Thema?

Das Abendblatt hat Prof. Norbert Leygraf dazu befragt. Er ist Direktor des Instituts für forensische Psychiatrie an der Universität Duisburg-Essen und gefragter Gutachter auf diesem Fachgebiet. So hat er auch Priester begutachtet, die unter dem Verdacht auf Kindesmissbrauch standen.

Abendblatt: Kann der Zölibat, also die geforderte sexuelle Enthaltsamkeit, bei einem Priester sexuelle Übergriffe gegen Kinder begünstigen?

Leygraf: Nein. Eine pädophile Tendenz entsteht nicht durch den Zölibat.

Abendblatt: Treten solche Fälle also nur bei pädophil veranlagten Männern auf?

Leygraf: Sexuelle Übergriffe an Kindern werden weit überwiegend von Menschen begangen, die insgesamt kriminell sind, nicht nur im sexuellen Bereich. Die haben meist keine Pädophilie, sondern sie nehmen das, was gerade kommt. In der Regel sind sie bereits wegen anderer Delikte vorbestraft - Raub, Diebstahl, Betrug, Körperverletzung. Die Kriminologische Zentralstelle in Wiesbaden hat in einer Untersuchung festgestellt, dass die meisten Täter vor der Begehung sexueller Handlungen an Kindern schon wegen anderer Delikte vorbestraft waren und danach auch häufig wieder mit anderen nicht sexuellen Delikten rückfällig werden. Diejenigen Verdächtigen, die am Canisius-Kolleg und an anderen Schulen aufgefallen sind, gehören aber zu einer ansonsten eher gesetzestreuen, nicht kriminellen Gruppe. Sie haben offenbar tatsächlich eine pädophile Tendenz - und nicht erst durch den Zölibat.

Abendblatt: Die Sexualität ändert sich also nicht wegen des Zölibats?

Leygraf: Natürlich können durch die Unterdrückung von Sexualität neurotische Konflikte und Fehlentwicklungen auftreten, das ist seit Sigmund Freud bekannt. Aber es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass die Sexualität dann entartet, wenn man sie unterdrückt, oder dass sie sich deshalb ändert.

Abendblatt: Das denken aber viele Laien: Wenn Priester und Mönche weder Sex mit Frauen noch Männern haben dürfen, halten sich einige eben an Kinder. Zumal sie durch die Beichte die Möglichkeit haben, ein relativ intimes Verhältnis zu Kindern aufzubauen und mit ihnen über "Geheimnisse" zu sprechen.

Leygraf: Diejenigen, die jetzt im Verdacht stehen, scheinen pädophil orientierte Menschen gewesen zu sein. Es gibt aber auch andere. Ich kenne einige Priester, die aufgefallen waren, weil sie kinderpornografisches Material hatten, und deshalb nach Abschluss des Strafverfahrens im Auftrag der Kirche von uns begutachtet wurden. Es ist richtig, schon den Besitz solchen Materials zu bestrafen. Aber diese Priester waren eher ungefährdet, tatsächliche sexuelle Handlungen an Kindern zu begehen.

Abendblatt: Der Augsburger Theologe Hanspeter Heinz sieht das Hauptproblem in der "sexuellen Unreife" bei jungen Priestern und Seminaristen. Wenn sie keine Freundin haben dürften, könnten sie auch nicht reifen. Aber macht sich dann so jemand an Kinder heran?

Leygraf: Das halte ich für an den Haaren herbeigezogen. Unter Umständen bekommt so ein junger Mann eine Reihe von Schäden in seiner Persönlichkeitsentwicklung. Aber die Zielrichtung seiner Sexualität steht seit der Pubertät fest, sie ändert sich danach nicht mehr. Auch Pädophilie, eine Präferenzstörung, würde sich nicht mehr ändern oder plötzlich neu entstehen.

Abendblatt: Was bedeutet das für die Behandlung von Pädophilie?

Leygraf: Man kann Leute, die wirklich pädophil sind, nicht behandeln, indem man ihnen beispielsweise beibringt, mit erwachsenen Frauen zu schlafen. Sondern man kann ihnen allenfalls beibringen, ganz auf ihre Sexualität zu verzichten, mithilfe von Medikamenten.

Abendblatt: Es heißt, Pädophile gingen immer dahin, wo Kinder sind - also in Sportvereine, kirchliche Kinderarbeit, an Schulen.

Leygraf: Das ist ein verbreitetes Vorurteil, aber wissenschaftlich nie überprüft worden. Es ist allerdings so, dass Menschen mit einer Kernpädophilie tatsächlich sehr gut mit Kindern umgehen können. Sie sind sehr gut in der Lage, sich auf Kinder einzustellen, weil die Welt des Kindes quasi auch die ihre ist, sie leben in dieser kindlichen Welt. Deshalb suchen sie sich oft pädagogische Berufe. Nicht weil sie das willentlich nutzen wollen, um Kinder sexuell zu missbrauchen, sondern weil es ihnen gefällt und zu ihnen passt.

Abendblatt: Was kann die Kirche denn vorbeugend gegen Missbrauch tun? Gibt es überhaupt wirkungsvolle Maßnahmen?

Leygraf: Da hat die Kirche im Prinzip dasselbe Problem wie der Staat, wenn er Lehrer einstellt: Es gibt keine Möglichkeit, im Vorfeld durch Untersuchungen oder psychologische Tests jemanden herauszufiltern, der später gefährdet sein kann, Kinder sexuell zu missbrauchen. Man kann nur schneller und konsequenter Verdachtsmomenten nachgehen und früher eingreifen, als es früher offenbar häufig der Fall war.