Hoffen auf Erfolg - Warum Erwachsene die Schulbank drücken

Die Arbeitslosenzahlen steigen immer mehr. Statt es der Wirtschaft gleichzutun und in Depressionen zu verfallen, nehmen viele jüngere und ältere Menschen die zusätzliche Belastung allabendlicher Weiterbildung auf sich, um neue berufliche Möglichkeiten zu erlangen, nach dem Motto: "Du bist, was du aus dir machst!"

Was für ein Tagesablauf. Morgens um halb sechs klingelt der Wecker, kleines Frühstück im Stehen, schnell noch die Schulsachen für den Abend zusammenpacken, kurz den Straßenwetterbericht hören und sich auf den Weg zur Arbeit begeben. Gott sei Dank gibt es Gleitzeit, so daß bei übermäßigem nächtlichen schulischen Einsatz auch eine halbe Stunde später angefangen werden kann. Dann, nach acht Stunden Arbeit, zur Abendschule hetzen, mit der Hoffnung, nicht wieder einmal zu spät zu kommen.

Zwischen den Ampelrotphasen: schneller Blick auf die Vokabeln für Englisch, Latein oder Französisch, die Logarithmen der Mathematik schnell noch einmal überflogen. Auf die Frage nach einer gemeinsamen amüsanten Freizeitgestaltung können die Betroffenen nur ein müdes Lächeln über die Lippen bekommen. Denn auch das Wochenende ist voll eingeplant: Sonnabends einkaufen und putzen, Haustiere versorgen, endlich Familienleben auffrischen, mit Freunden telefonieren und Bescheid sagen, dass man noch lebt. Und dann: nacharbeiten, vorarbeiten, büffeln, auswendig lernen. Und dann ist das Wochenende schon wieder herum.

Was für Menschen sind das, die sich diesen täglichen Strapazen hingeben?

Laut unserer Umfrage am Abendgymnasium Vor dem Holstentor (AGH) - es wurden 180 Personen befragt - sind die meisten Schüler zwischen 19 und 23 Jahre alt, die ältesten Schüler sind 35 bis 40 - und älter. Die meisten hoffen auf bessere berufliche Chancen nach dem Schulabschluss. Sie möchten ihren Beruf wechseln und studieren. Weder materiell noch ideell werden die meisten von ihren Arbeitgebern unterstützt. Einige Betriebe allerdings drücken von Zeit zu Zeit ein Auge zu und lassen ihre strapazierten Mitarbeiter im Falle einer Klausur eher gehen.

Die international gemischte Schülerschaft setzt sich wie folgt zusammen: 30 Prozent der Befragten sind ohne Berufsausbildung, knapp 20 Prozent zurzeit Arbeit suchend. Die Mehrheit allerdings ist in einen täglichen Arbeitsprozess integriert. Die meisten haben einmal das Gymnasium besucht. Es gibt aber auch ehemalige Haupt- und Realschüler, die sich nun auf das Abitur vorbereiten.

Die Idee, Menschen eine neue Bildungschance zu eröffnen, wurde schon in den 20er-Jahren während der Weimarer Republik praktiziert: Zunächst entstanden Abendkurse der deutschen Arbeiterfront.

Das Abendgymnasium am Holstenglacis 6 mit seinem wunderschönen Arkadeninterieur und dem unverwechselbaren Glasdach besteht seit 1943. Nach einigen Turbulenzen während des Zweiten Weltkrieges wurde die Institution Abendschule endgültig im Schulgebäude Holstenglacis eröffnet.

Gegründet wurde das AGH speziell für Menschen, die wegen des Krieges ihre berufliche Laufbahn abbrechen mussten.

Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen mögen sich geändert haben, die Kernaufgabe dieser Abendschule ist jedoch nach wie vor: den Lernenden einen Weg zu ermöglichen, der zu höherer Bildung verhilft und ihnen somit neue berufliche Karrierechancen eröffnet.

Ein repräsentatives Beispiel für viele unserer Abendschüler ist B. Nach abgebrochener Schullaufbahn und lustlos absolvierter Lehre zum Verwaltungsbeamten entschied er sich mit 22 Jahren, das Abitur am Abendgymnasium nachzuholen.

"Der Entschluss, doch noch das Abi zu machen, entstand, weil ehemalige Klassenkameraden es geschafft hatten, die ich für dusseliger als mich selbst gehalten hatte." Während der ganzen drei Jahre war B. nebenbei voll berufstätig: "Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals wieder so müde gewesen wäre wie in dieser Zeit, sehr oft", sagt er rückblickend. Heute unterrichtet er selbst Mathe an der Abendschule für Haupt- und Realschüler.

Und die Aussichten heute? Ein Blick auf die Arbeitslosenzahlen zeigt, dass Fort- und Weiterbildung zwar unbedingt erforderlich ist, eine Garant für eine erfolgreiche Karriere sind aber auch Abitur und Studium längst nicht mehr.

Was allerdings seit Bestehen des Abendgymnasiums eine Tatsache ist: Die Schüler in den Klassen und Kursen bilden Schicksalsgemeinschaften. Die Tatsache, dass die meisten von ihnen einem ähnlich starken Druck und Stress ausgesetzt sind, schweißt sie zusammen. Nicht selten hilft das dem einen oder anderen manchmal, den Mehrfachbelastungen besser gerecht zu werden. Schließlich heißt es ja auch: Geteiltes Leid ist halbes Leid.

Und schließlich, ohne den festen Willen, den Schulabschluss zu schaffen, hätte sich wohl keiner von ihnen am Abendgymnasium überhaupt erst angemeldet.