Mit fehlender Selbstdisziplin hat Alkoholabhängigkeit nichts zu tun: Sie ist eine richtige Erkrankung

Alkoholabhängigkeit ist eine der großen unterschätzten Krankheiten unserer Zeit, warnen Ärzte. In Deutschland sind laut dem Suchtbericht des Bundesgesundheitsministeriums rund 1,3 Millionen Menschen alkoholabhängig, davon allein rund 40 000 in Hamburg. 70 Prozent der Alkoholabhängigen sind Männer - die Tendenz bei Frauen steigt jedoch. Jeder achte Deutsche trinkt Alkohol in einem Maße, das Ärzte als riskant einstufen.

Der Grat zwischen Genuss- und zwanghaftem Trinken ist schmal. Das Feierabendbier bedeutet nicht gleich Abhängigkeit. "Wer jeden Abend sein Bier trinkt, verfällt nicht sofort dem Alkohol - solange es bei dem einen Bier bleibt", sagt Dr. Jens Reimer, 41. Er ist Direktor des Zentrums für Interdisziplinäre Suchtforschung und leitet den Arbeitsbereich "Sucht" am Universitätsklinikum Eppendorf.

Zu den Kriterien, nach denen Ärzte die Alkoholsucht definieren, gehört unter anderem die Steigerung der Konsummenge. Wenn der kontrollierte Genuss in einen Zwang - Suchtmediziner sprechen vom sogenannten "Craving" - umschwenkt, ist ein entscheidendes Kriterium der Abhängigkeit erfüllt. "Das führt häufig zu einem krankhaften Kontrollverlust, der kein moralisches Versagen ist", sagt Dr. Reimer. Mediziner sprechen deshalb von Alkoholkrankheit, nicht von Alkoholismus, um zu untermauern, dass es sich hier um eine richtige Krankheit handelt.

Die Symptome äußern sich nicht sofort in körperlichen Anzeichen, wie zum Beispiel Entzugserscheinungen (Händezittern, Schweiß, erhöhter Pulsschlag), sondern treten zunächst in Form psychosozialer Verhaltensweisen auf. Klassische Anzeichen sind das Vernachlässigen anderer Aktivitäten sowie die Strukturierung des Tagesablaufs um den Alkohol herum und das Leugnen des Suchtverhaltens. Später setzt eine "Toleranzentwicklung" ein, bei der sich das Gehirn an den Alkohol gewöhnt. Diese sogenannte Trinkfestigkeit deutet auf eine Erkrankung hin. Treten die drei Faktoren (Kontrollverlust, Toleranzentwicklung, Entzugssyndrom) auf, diagnostizieren Mediziner eine Alkoholabhängigkeit.

"Das euphorische Gefühl spielt bei der psychischen Abhängigkeit eine große Rolle", erklärt der Psychiater Dr. Reimer. Das Gehirn speichert die gewohnten Verhaltensweisen. Sobald eine gewisse Situation auftritt, in der der Alkoholabhängige zum Beispiel an alkoholhaltigen Pralinen riecht, werden Stoffwechselwege aktiviert, die den gewohnten Mechanismus in Gang bringen: das Trinken. Deshalb bezeichnen Ärzte die Alkoholsucht auch als "chronisch rezidivierende Krankheit", an der Betroffene häufig lebenslang leiden.

Zwei Aspekte sind für die Sucht verantwortlich, ein neurologischer und ein psychosozialer. "Im Gehirn treten neurobiologische Veränderungen auf, die den Gehirnstoffwechsel und das Gedächtnis betreffen", sagt der Psychiater.

Die psychotrope Substanz Ethanol, die über die Blutbahn in das Gehirn gelangt, verteilt sich im Nervensystem und beeinflusst viele Neurotransmitter, die Informationen von Nervenzelle zu Nervenzelle tragen. Dabei werden die Impulsübertragungen zwischen den Nervenzellen verändert: Sie verzerren das natürliche Gleichgewicht zwischen Aktivität und Dämpfung, sodass die Dämpfung überwiegt. Bei langjährigem Konsum führt das zu Defiziten, die die Aufmerksamkeit, Konzentration, das Gedächtnis und Vorstellungsvermögen und auch die Lernfähigkeit betreffen. Zudem werden jene Botenstoffe freigesetzt, die positive Gefühle verstärken: Endorphine, Serotonin und Dopamin.

"Es ist schwierig zu sagen, wie stark genetische Ursachen gegenüber den psychosozialen wiegen", sagt Reimer. Aktuelle Studien - die aber umstritten sind - gehen von einer 50- bis 60-prozentigen genetischen Disposition aus. Klar ist: Auch die psychosoziale Komponente spielt eine große Rolle. Belastungen wie Brüche im Arbeitsleben, Beziehungsprobleme oder das Fehlen von sozialen Kontakten erhöhen das Risiko einer Alkoholerkrankung. Betroffene fühlen sich in ihrem Zwang gefangen, keine freie Entscheidung mehr über ihr Handeln zu besitzen, sie fühlen sich wie fremdgesteuert. Das geht häufig mit einer regelrechten Persönlichkeitsveränderung einher, zu der Stimmungsschwankungen, Kritik- und Urteilsminderung ebenso wie Verleugnung und soziale Unangepasstheit zählen. Schuldgefühle betäuben Süchtige dann mit weiterem Alkohol. "Um aus diesem Teufelskreis herauszufinden, ist allem voran die Einsicht nötig: Ja, ich brauche eine Therapie."

Am Anfang steht der körperliche Entzug. Medikamente wie Oxazepam oder Clomethiazol mildern die Entzugserscheinungen, die sich durch Schwindel, Übelkeit und Erbrechen (teilweise Halluzinationen und Krampfanfälle) äußern. Hiermit soll das Delir, bei dem Herzversagen und Atemstillstand drohen, verhindert werden. Der körperliche Entzug erfolgt stationär in sieben Tagen. Darauf aufbauend folgt der sogenannte Qualifizierte Entzug, der sich über zwei weitere Wochen erstreckt und in Therapiegruppen psychosoziale Verhaltensweisen für das Trockenbleiben vermittelt. Zur Unterstützung der Abstinenz können Medikamente eingesetzt werden; zum Beispiel die Anti-Craving-Substanz Acamprosat und der Arzneistoff Naltrexon, der die euphorisierenden Wirkungen des Alkohols blockiert. In der anschließenden Entwöhnungsbehandlung soll der Therapieerfolg stabilisiert werden.

"Einige schaffen es beim ersten Mal, andere brauchen drei oder vier Anläufe", sagt Reimer. "In jedem Fall handelt es sich um eine Krankheit, deren Verlauf von den Menschen deutlich beeinflusst werden kann." Am Anfang, sagt der Arzt, steht die Einsicht.