Bremer Forscher beklagen im Arzneireport gefährliche Verordnung von Medikamenten – vor allem für junge Frauen, Demente und Alkoholiker.

Hamburg. Es ist nur eine Episode in dem Report: Das Schmerzmittel Metamizol wurde allein für die Patienten der Krankenkasse Barmer GEK im vergangenen Jahr 460.000-mal verordnet - trotz möglicher schwerer Nebenwirkungen wie Schock oder Blutarmut. In den USA oder Schweden wird es gar nicht verschrieben - und es ist problemlos ersetzbar. "Wir haben ein großes Problem, was Arzneimittelsicherheit betrifft", sagte der als Pharmakritiker bekannte Forscher Gerd Glaeske. Er ist Autor des neuen Arzneimittelreports der Barmer GEK. Drei Problemgruppen stellt Glaeske heraus: Demenzkranke, Alkoholabhängige und gesunde junge Frauen, die mit der Pille verhüten. Überall zeigt sich nach Feststellung des Professors am Bremer Zentrum für Sozialpolitik dasselbe Bild: Fast hemmungslos verschreiben Ärzte Medikamente ohne Rücksicht auf die Risiken.

Scharf kritisierte Glaeske, der auch Mitglied des Sachverständigenrates der Bundesregierung ist, die zu häufige Verordnung sogenannter Neuroleptika zur Ruhigstellung altersverwirrter Menschen in Pflegeheimen. Diese Mittel, die eigentlich der Behandlung von Psychosen dienen, würden "mehr und mehr in Bereichen eingesetzt, wo sie nicht indiziert sind". Etwa jeder dritte Demenzkranke bekomme Neuroleptika, obwohl damit das Risiko eines vorzeitigen Todes steige. Gäbe es eine bessere Pflege, könnte die Arzneigabe um 20 bis 30 Prozent verringert werden, sagte Glaeske. Es handele sich um eine "Entwicklung, die mit einer Menschenwürde und einer vernünftigen Patientenversorgung nicht in Verbindung zu bringen ist", so der Forscher.

Ärzte und Pharmakonzerne warfen Glaeske ungerechtfertigte Pauschalkritik vor. Der Sprecher der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Roland Stahl, sagte dazu: "Pauschal das Bild zu entwerfen, dass Ärzte verantwortungslos verordnen, ist perfide." Die Ärzte stützten sich bei ihren Verordnungen selbstverständlich auf die aktuellen medizinischen Leitlinien. "Die Macht des Rezeptblocks gibt es gar nicht mehr", meinte er zudem. Auch der Verband forschender Pharmahersteller wies die Kritik zurück. "Alle Antibabypillen haben das Merkmal, dass sie das Thromboserisiko etwas erhöhen", sagte Sprecher Rolf Hömke, "einige etwas mehr, andere etwas weniger." Nicht nachvollziehbar sei, dass die Studienautoren nur auf dieses Kriterium abzielten.

In Hamburg sind die Ärzte vorsichtig geworden, was ihre Verschreibungspraxis von Medikamenten betrifft. „Bei unseren Nachprüfungen konnten wir nichts beanstanden“, sagte Michael Späth, der Chef der Ärztevertreter in der Kassenärztlichen Vereinigung, dem Abendblatt. „Hamburger Gynäkologen achten sehr darauf, dass die richtige Frau die richtige Pille bekommt.“ Auch bei Demenzkranken könne man keinen Trend feststellen, dass Ärzte sie übertrieben oft ruhigstellen, um beispielsweise Aggressivität unter Kontrolle zu bekommen. Späth sagte zum Verschreibeverhalten seiner Kollegen: „Hamburger Ärzte sind sehr sparsam mit Rezepten geworden.“ Weitere Sparmöglichkeiten bei Medikamenten sieht er nicht. „Man darf auch die Versorgung der Patienten nicht gefährden.“

Den gesundheitspolitischen Sprecher der SPD-Fraktion, Karl Lauterbach, überraschen die Ergebnisse des Reports der Barmer GEK nicht. "Die Pharmaunternehmen bewerben häufig neue Medikamente, die allerdings oft höhere Risiken für den Patienten bedeuten", sagte er dem Abendblatt. Zudem würden sich Mediziner teilweise nicht genug mit den Nebenwirkungen der Medikamente auskennen. "Viele Ärzte von Krankenhäusern und Praxen lassen sich auf Kosten der Pharmaunternehmen zu neuen Arzneien fortbilden", hob Lauterbach hervor. Deutschland brauche daher eine deutlich größere Unabhängigkeit der Ärzte von der Arzneiindustrie.

Auch der Report der Barmer GEK kommt zu dem Schluss, dass die Mediziner bei der Risikobewertung oft dem "Marketinggeklingel" von Firmen aufsäßen. Gesundheitsexperte Lauterbach rechne zudem mit noch höheren Arzneikosten für die Verbraucher, wenn "die Bundesregierung nicht klare Obergrenzen für Preise" setze. Erneut machten auch die Bremer Wissenschaftler Sparpotenziale der Krankenkassen bei Medikamenten aus. Allein durch die Erhöhung der Quote für Nachahmerpräparate (Generika) von 85 auf 90 Prozent könne die Barmer GEK als größte Kasse pro Jahr bis 500 Millionen Euro sparen. 2010 gaben alle Krankenkassen zusammen 29 Milliarden Euro für Arzneimittel aus. Dabei entfallen auf nur knapp ein Prozent der Versicherten rund 30 Prozent der Ausgaben. Das hat mit den hohen Ausgaben für Schwerkranke zu tun, die beispielsweise an Krebs oder multipler Sklerose leiden.