Ein Molekül, das in anderen Zellen das Wachstum anregt, führt bei einer Anhäufung in Nervenzellen zu deren Tod

Bonn. Ein körpereigenes Lipidmolekül hat fatale Auswirkungen, wenn es sich in Nervenzellen anhäuft. Das haben Forscher der Universität Bonn herausgefunden. Die Substanz, die unter anderem als Strukturkomponente in Zellmembranen vorkommt, löst bei der Anhäufung ein Selbstmordprogramm aus, und die Nervenzellen sterben ab. Die Erkenntnis könnte die Alzheimer-Forschung revolutionieren - denn dieser Prozess könnte ein Auslöser für die Krankheit sein, vermuten die Wissenschaftler. Die Ergebnisse ihrer Untersuchung sind jetzt im Fachmagazin "Cell Death and Differentiation" erschienen.

Verantwortlich für den Untergang von Nervenzellen ist ausgerechnet ein Molekül, das in anderen Körperzellen das Wachstum anregt. Sphingosin-1-Phosphat entsteht beim Abbau von Zellmembranen, wird aber normalerweise sofort weiter zerlegt. Kommt es zu einer Entgleisung im Stoffwechsel und häufen sich dadurch größere Mengen des Lipidfragments in Nervenzellen an - wie im Laufe des menschlichen Alterungsprozesses, wenn der Zellabbau stärker und der Zellaufbau geringer wird -, sterben die Zellen ab, wie die Wissenschaftler um Privatdozentin Dr. Gerhild van Echten-Deckert jetzt gezeigt haben.

"Wir haben Mäuse gezüchtet, denen ein bestimmtes Eiweiß fehlte: Sie konnten Sphingosin-1-Phosphat nicht abbauen", erläutert Mitarbeiterin Dr. Nadine Hagen. Die Mäuse starben bereits mit sechs bis acht Wochen, und als die Forscher die Gehirne der toten Tiere untersuchten, stellten sie fest: "In den Gehirnregionen, in denen das Lipidfragment besonders angereichert war, waren die Gehirnzellen abgestorben - und das bei wenigen Wochen alten Mäusen".

Auch den genauen biochemischen Mechanismus haben die Forscher bereits entschlüsselt: Sphingosin-1-Phosphat setzt große Mengen Calcium aus den internen Calciumspeichern der Nervenzellen frei. Das wiederum löst eine zellinterne Signalkaskade aus - mit dem programmierten Zelltod als Endziel. "Bei anderen Körperzellen bewirkt Sphingosin-1-Phosphat Zellteilung und Wachstum", sagt Hagen, "aber Nervenzellen teilen sich nicht mehr. Vermutlich sind sie darauf programmiert, durch den Zelltod dem Wachstum zu entgehen - nach dem Motto: besser sterben als wachsen." Denn das unerwartete Signal zum Wachstum könnte auch von einem Tumor herrühren.

Im Laufe der Signalkaskade, die Sphingosin-1-Phoshat in Nervenzellen in Gang setzt, wird auch das unter Alzheimer-Forschern bekannte Tau-Protein verändert. Bei vielen Wissenschaftlern gilt ein modifiziertes Tau-Protein als eigentliche Ursache der Alzheimer-Krankheit. Gerhild van Echten-Deckert ist da skeptisch: "Die Frage ist doch, ob die Veränderung des Tau-Proteins der Grund für die degenerativen Veränderungen im Gehirn ist - oder nur ein Nebeneffekt. Wir vermuten, dass vielmehr ein körpereigenes Abbauprodukt, das sich im Gehirn anreichert, die Krankheit auslöst." Sphingosin-1-Phosphat wäre ein plausibler Kandidat für ein solches Abbauprodukt: Im Gehirn liegen besonders viele der Membranmoleküle vor, aus denen die Substanz entsteht.

Seit Mitte der 80er-Jahre bereits forscht van Echten-Deckert an den speziellen Lipiden; seit 15 Jahren hat sie ihr Augenmerk gezielt auf den von ihnen ausgelösten Zelltod gelegt. Als erste stellten sie und ihr Team einen Zusammenhang zur Entstehung von Alzheimer her: "Noch nie wurden dieses Lipid-Fragment hinsichtlich einer Neurodegeneration untersucht."

Als Nächstes planen die Bonner Forscher, die Gehirne von verstorbenen Alzheimer-Patienten zu untersuchen: Sie wollen dort nach Sphingosin-1-Phosphat suchen. "Hat sich in den Gehirnen der Alzheimer-Patienten viel dieser Substanz angehäuft, bekräftigt das unsere Theorie, dass ein Zuviel des Moleküls die Krankheit auslöst", so van Echten-Deckert. Ein entsprechender Antrag wurde bereits von der Deutschen Forschungsgemeinschaft bewilligt; jetzt warten die Bonner Wissenschaftler auf die ersten Proben.

Behalten van Echten-Deckert und ihr Team recht, ergeben sich ganz neue Möglichkeiten, Alzheimer vorzubeugen: "Man könnte dann der Anhäufung von Sphingosin-1-Phosphat gezielt entgegensteuern, beispielsweise mit Medikamenten, die dafür sorgen, dass die Substanz schneller abgebaut wird", erläutert die Wissenschaftlerin.