Wissenschaftler in Hannover haben den Ansatz für eine neue Therapie entdeckt, die weniger Nebenwirkungen haben soll. Mit einem Medikament ist frühestens in sechs bis sieben Jahren zu rechnen

Hannover. Einen neuen Ansatz für die Therapie der HIV-Infektion haben jetzt Wissenschaftler der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) entwickelt. In einer klinischen Studie konnten sie nachweisen, dass ein von ihnen entdecktes Eiweiß, das Peptid VIR-576, die Vermehrung der HI-Viren bei Patienten wirksam hemmt. Aber anders als alle bisherigen Medikamente gegen die Infektion setzt das neue Mittel nicht an dem Zellkern der Zelle des infizierten Menschen an, sondern am Virus selbst. Ihre Studienergebnisse veröffentlichen die Forscher der MHH gemeinsam mit Wissenschaftlern der Universität Ulm in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift "Science Translational Medicine".

Die Viren müssen mit den menschlichen Zellen verschmelzen. Das ist die Grundlage dafür, dass sie sich vermehren, ins Blut gelangen und weitere Zellen infizieren und schließlich zum Ausbruch der Immunschwächekrankheit Aids führen können. Deswegen zielen alle bisherigen HIV-Medikamente darauf ab, die Vermehrung der Viren in den Zellen zu unterdrücken oder die Oberflächenstruktur der Zellen so zu verändern, dass die Viren dort gar nicht erst andocken können.

Das neu entdeckte VIR-576 hingegen blockiert ein Protein, das sogenannte Fusionseiweiß, das für die Bindung an die Oberfläche der menschlichen Zelle verantwortlich ist, in der Hülle des Virus. Auf diese Weise verringert es ebenso wie andere HIV-Medikamente die Anzahl der Viren im Blut von Infizierten. Allerdings, so ist die Hoffnung der Forscher, soll die Behandlung mit VIR-576 mit weniger Nebenwirkungen verbunden sein.

"Nebenwirkungen der bisher gebräuchlichen Medikamente basieren alle darauf, dass sie immer am Zellkern der menschlichen Zelle angreifen", sagte Prof. Reinhold Schmidt, Direktor der Klinik für Immunologie und Rheumatologie an der Medizinischen Hochschule Hannover und Leiter der Studie. Das kann dann Störungen der Blutbildung und Nieren- oder Leberprobleme zur Folge haben. Diese Nebenwirkungen seien aber bei VIR-576 nicht zu erwarten, weil das Eiweiß nicht in die Zelle eindringe. In den bisherigen klinischen Studien habe VIR-576 keine schwerwiegenden Nebenwirkungen gezeigt, sagt der Immunologe.

Besonders gefürchtet bei herkömmlichen HIV-Medikamenten ist auch die Entwicklung von Resistenzen, weil die Viren sich schnell vermehren und sich währenddessen ihre Eigenschaften immer wieder verändern. Um dieses Risiko so gering wie möglich zu halten, werden die Patienten immer mit einer Kombination von drei Medikamenten behandelt. "Wenn man nur eins geben würde, würde sich innerhalb von Wochen eine Resistenz entwickeln", sagte Schmidt. Bei VIR-576 sei die Wahrscheinlichkeit einer Resistenz gering, weil das Peptid sich an einen sehr konstanten Teil des Virus binde.

Auf die Spur gekommen sind die Forscher dem Peptid VIR-576, als sie Eiweiße, die normalerweise im menschlichen Blut vorkommen, reinigten und im Reagenzglas auf ihre virushemmende Funktion untersuchten. Dabei stellten sie fest, dass ein natürliches Transportprotein im Körper, das sogenannte Alpha-1-Antitrypsin, diese Eigenschaft besitzt. Die Forscher spalteten den wirksamen Teil aus dem Protein ab und veränderten ihn zu dem jetzt verwendeten Peptid VIR 576.

Ein Problem, das allerdings noch gelöst werden muss, ist die Form der Verabreichung des Medikaments. Während der Studie erhielten die Teilnehmer das Medikament über eine Dauerinfusion. Denn es kann nicht als Tablette gegeben werden, weil dann die wirksame Substanz, das Eiweiß, im Darm verdaut werden würde. "Die Infusion ist aber keine Form für eine praktikable Therapie", sagte Schmidt. "Wir kennen jetzt das Molekül und seine Bindungsstelle am HI-Virus. Für die Zukunft planen wir, das Molekül chemisch herzustellen, sodass es in eine Tablette hineinpasst."

Bis dahin liegt vor den Forschern noch eine Menge Arbeit. Für das neue Therapiekonzept haben sie vier Jahre gebraucht. Jetzt müssen die Wissenschaftler das kleine Molekül herstellen und dann in Studien testen, die nochmals vier bis fünf Jahre dauern. Mit einem Medikament sei deswegen, sagte Schmidt, frühestens in sechs bis sieben Jahren zu rechnen.

Mit vorsichtigem Optimismus reagierte der Hamburger HIV-Experte Prof. Andreas Plettenberg, Leiter des ifi-Instituts für Interdisziplinäre Medizin auf dem Gelände der Asklepios-Klinik St. Georg, auf die Studie: "Das ist sicher ein interessanter und innovativer Ansatz. Ob sich die Hoffnung auf weniger Nebenwirkungen und weniger Resistenzen bewahrheitet, muss sich aber noch zeigen. Das wird sich erst in weiteren Studien mit vielen Patienten und langen Beobachtungszeiten herausstellen." Denn es habe sich schon öfter gezeigt, dass nach anfänglich hoffnungsvollen Ergebnissen in Langzeitstudien Nebenwirkungen aufgetreten seien, mit denen vorher niemand gerechnet hatte. "Es sind noch viele Hürden zu nehmen, aber die ersten Schritte sind gemacht. Und man kann nur hoffen, dass die weiteren Schritte auch erfolgreich sind", sagte Plettenberg.

Das neue Therapieprinzip könnte nicht nur bei der HIV-Infektion, sondern auch für die Behandlung von anderen gefährlichen Viren von Bedeutung sein, für die es bisher keine Therapie gibt, wie zum Beispiel die Tollwut oder das tropische Ebola-Virus. Aufgrund der neuen Erkenntnisse könnte man auch für solche Infektionen Hemmer gegen Fusionseiweiße entwickeln, meinte Schmidt.

Quelle: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung