Berlin. Die Erderwärmung lässt die Eismassen in den Bergen und Meeren schmelzen – nicht nur in Deutschland. Wann drohen Hochwasser und Dürre?

Olaf Eisen kann seinem Herzensthema beim langsamen Sterben zusehen. Hoffnung macht sich der Wissenschaftler keine mehr. „Es ist eine Frage der Zeit.“ Eisen ist Glaziologe. Wenn sich der Forscher des Alfred-Wegener-Instituts (AWI) und Professor an der Universität Bremen also in einem Gebiet bestens auskennt, dann sind es Gletscher. Er weiß, sein Fachgebiet – bildlich gesprochen – schmilzt auf absehbare Zeit dahin.

Für Deutschland gilt diese düstere Prognose ohne Einschränkung. Der kommende Sommer wird der erste sein mit hierzulande nur noch vier offiziellen Gletschern. Vergangenes Jahr hat der Südliche Schneeferner an der Zugspitze seinen Status verloren. Übrig bleiben noch der Nördliche Schneeferner und der Höllentalferner an der Zugspitze sowie der Blaueis und der Watzmanngletscher in den Berchtesgadener Alpen. Aber selbst denen gibt Olaf Eisen höchsten „fünf bis zehn Jahre“, sagt der Glaziologe im Gespräch mit unserer Redaktion.

Gletscherschmelze überhaupt noch zu stoppen? Wissenschaftler haben klare Meinung

Gletscher sind große Massen hauptsächlich aus Schnee, Firn und Eis, die meist von Bergen langsam in Richtung Tal strömen. Die meisten der heute noch existierenden Gletscher entstanden während der letzten Eiszeit vor rund 15.000 Jahren.

Anfang Januar hat eine große Studie der Carnegie Mellon University in Pittsburgh, veröffentlicht im Fachjournal „Science“, noch einmal detailreich untermauert, was für Wissenschaftler schon seit geraumer Zeit feststeht: Die Gletscherschmelze ist nicht mehr zu stoppen, höchstens noch zu bremsen. Selbst im günstigsten Fall, so die Studie, wird ein Großteil der noch vorhandenen Gletscher verschwinden. Ursache ist der menschengemachte Klimawandel. „Das ist völlig unstrittig“, sagt Eisen mit Blick auf die Glaziologen-Gemeinde.

Folgen der Gletscherschmelze für Deutschland – worauf man sich einstellen muss

Welche Folgen hat die weltweite Gletscherschmelze für die Menschen in Deutschland und für gefährdete Regionen weltweit? Über kurz oder lang gravierende – aber je nach Lebensmittelpunkt unterschiedlich heftige, sagt neben Olaf Eisen auch sein Kollege Wilfried Hagg.

Auf das Verschwinden der deutschen Gletscher schauen beide nüchtern. „Das wird sich kaum auf das Leben in Deutschland auswirken“, sagt Hagg, Glaziologe an der Hochschule München. Er hat vergangenen Sommer nach Messungen den Südlichen Schneeferner mit für „tot“ erklärt.

Zwar würde dem Tourismus in den Alpentälern ein Anziehungspunkt fehlen, manche alpinen Routen würden durch Geröll gefährlicher. Stärker betreffe es aber die alpennahen Flüsse wie Rhein oder Inn. In den Sommern der nächsten ein bis zwei Jahrzehnte werde das Schmelzwasser der Gletscher die Flusspegel noch ansteigen lassen, die Hochwassergefahr in manchen Regionen steigt.

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Ist der Höhepunkt überschritten und die Gletscher weg, könne es in heißen und trockenen Sommern ohne Gletscherwasser zu sehr niedrigen Wasserständen kommen – mit ernsten Folgen für die Schifffahrt, den Warenverkehr, die Energiekonzerne, die Benzinpreise.

Gletscherschmelze hautnah: Der größte Gletscher der Alpen, der Aletsch (Foto) im Schweizer Wallis, büßt jedes Jahr bis zu 1,5 Meter Eisdicke ein.
Gletscherschmelze hautnah: Der größte Gletscher der Alpen, der Aletsch (Foto) im Schweizer Wallis, büßt jedes Jahr bis zu 1,5 Meter Eisdicke ein. © epd | Kim Petersen/imagebroker

Erderwärmung und Gletscherschmelze: Diese Länder trifft es schon jetzt hart

Wie schnell die deutschen und europäischen Gebirgsgletscher verschwinden, erklärt Eisen, hängt vom Tempo der Erderwärmung ab. Dem jüngsten Sachstandsbericht des Weltklimarats IPCC zufolge könnte die Marke von 1,5 Grad schon binnen der nächsten zehn Jahren erreicht sein. „Das heißt, dass 50 Prozent der Gebirgsgletscher abschmelzen werden“, sagt Eisen, in Mitteleuropa alle unterhalb von 3500 Metern Höhe. Steigt die Erderwärmung Richtung zwei Grad und mehr, werde es auch für jene darüber und damit für 70 bis 90 Prozent der Gebirgsgletscher weltweit „kritisch“.

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Anders als in Deutschland und Europa, so beide Experten, bedroht die Gletscherschmelze schon jetzt zunehmend die Lebensgrundlage in trockenen und heißen Gebieten etwa in Zentralasien, in Zentral- und Südamerika. Ohne genug Gletscherwasser sind im Sommer Landwirtschaft und Nahrungsmittelversorgung gefährdet.

Gletscherschmelze nicht die größte Bedrohung: Was Experten aktuell noch mehr besorgt

„Wenn alle Gebirgsgletscher schmelzen, wird der Meeresspiegel um einen halben Meter ansteigen“, erklärt Hagg. Viel dramatischer für den Meeresspiegelanstieg sehen die Wissenschaftler jedoch das Schmelzen der sogenannten Inlandeise: Die schrumpfenden Eisschilde der Antarktis und Grönlands. Sie könnten je nach Modell den Spiegel bis 2100 auf bis zu zwei Meter steigen lassen – mit dramatischen Folgen für Insel- und Küstenbewohner.

Sorgen bereitet Forschern derzeit der Thwaites-Gletscher, ein riesiger Eis-Pfropfen in der West-Antarktis, so groß wie der US-Bundesstaat Florida. Wird dieser instabil, werde es „einen großen Schub geben und die Schmelze in der Antarktis sich massiv beschleunigen“, sagt Hagg. Ob dieser Kipp-Punkt erreicht wird, sei nicht mehr die Frage, sagt Eisen, sondern nur wann: „Ist das System schon gekippt und wir sehen das nur in Zeitlupe oder kippt es noch in zehn oder 30 Jahren?“

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Schon früher bedrohlich würden aber die anderen Auswirkungen des Klimawandels: Dürren und Überschwemmungen. Die Flut im Ahrtal 2021, die Dürren in Frankreich und Spanien 2022. „Diese bahnen sich im Verlauf von Wochen oder Monaten an und können jeden treffen“, warnt Eisen.

Der wichtige Thwaites-Gletscher in der West-Antarktis wurde im September 2022 von einem autonomen Unterwasserfahrzeug untersucht.
Der wichtige Thwaites-Gletscher in der West-Antarktis wurde im September 2022 von einem autonomen Unterwasserfahrzeug untersucht. © dpa | Anna Wåhlin

Klimawandel und Gletscherschmelze bremsen: Forscher mit eindringlichem Appell

Noch bleibt ein Zeitfenster, um Klimawandel und Gletschersterben zu verlangsamen. Wichtig sei, dass jedes Land mit eigenen Maßnahmen zum Klimaschutz seinen Ausstoß von Treibhausgasen schnellstmöglich auf null senke, sagen Glaziologen. Erforscht wird auch, der Atmosphäre einen kleinen Teil des gefährlichen CO2zu entziehen.

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„Jedes Zehntel Grad weniger Erwärmung“, sagt Eisen, werde den Gletschern helfen. „Wir fahren auf eine Mauer zu, und je länger wir warten, desto stärker müssen wir bremsen“, sagt Hagg. „Doch irgendwann ist es auch bei einer Vollbremsung zu spät.“