Atommacht: Flugzeuge und U-Boote mit Nuklear-Raketen und Kernwaffen für das Gefechtsfeld. Paris vollzog wie die USA eine strategische Wende: Der Atomkrieg soll führbar werden.

Hamburg. Am 13. Februar 1960 tauchte der Fünfte Reiter der Apokalypse - die Atombombe - mit Höllenfeuer und blendendem Blitz in der Sahara auf. Für Frankreich begann damit ein neues Zeitalter. Auf dem Testgelände Reganne in Algerien detonierte die erste französische Nuklearwaffe, und die Grande Nation stieg unter die führenden Militärnationen der Erde auf.

Zwei Jahre später wurde Algerien unter blutigen Geburtswehen unabhängig; die Tests fanden von da an im Südpazifik statt - auf Mururoa und Fangataufa, zwei Inseln des Tuamoto-Archipels.

Drei Motive waren es, die Paris zu dieser dramatischen Entwicklung veranlaßt hatten.

  • Zum einen die schmerzliche Erinnerung an die demütigende Niederlage des französischen Heeres gegen die Armeen des deutschen Dauer-Rivalen im Zweiten Weltkrieg. Künftig wollte man vor dem unberechenbaren rechtsrheinischen Nachbarn sicher sein, indem man ihm notfalls dessen Vernichtung androhen konnte.
  • Dann die Erinnerung an die Brüskierungen durch die USA, die zwar den Briten, nicht aber den Franzosen eine aktive Mitarbeit am "Manhattan-Projekt" in Los Alamos erlaubt hatten, das zum Bau der amerikanischen Atombombe geführt hatte. Zudem hatten die USA 1954 ein verzweifeltes Ersuchen von Paris kühl abgebürstet, die im vietnamesischen Dien Bien Phu eingekesselte französische Expeditionsarmee durch den Einsatz von Nuklearwaffen zu retten. Dien Bien Phu wurde zur vernichtenden Niederlage - und Frankreich schwor sich, selber Atommacht zu werden, um sich nie wieder auf andere verlassen zu müssen.
  • Das dritte Motiv schließlich war natürlich die Bedrohung durch die gewaltigen Panzerarmeen und Atom-Arsenale der kommunistischen Sowjetunion - was dann zur offiziellen Rechtfertigung der Abschreckungsstreitmacht "Force de Dissuasion" ausgebaut wurde.

In den Zeiten des Kalten Krieges hielt sich Frankreich - wie die USA und Rußland - eine strategische "Triade" aus land-, -luft- und seegestützten Atomwaffen.

Die Landkomponente wurde durch 18 ballistische Mittelstreckenraketen gestellt, die in tief verbunkerten Silos auf dem Plateau d'Albion in den Alpes de Haute-Provence standen. Diese Anlagen wurden inzwischen geschleift, die Raketen verschrottet. Auch die bei den Deutschen damals berüchtigten atomaren Kurzstreckenraketen der Typen Pluton und Hades, die, zur Abwehr der Russen eingesetzt, allenfalls mitten in die Bundesrepublik gereicht hätten, sind seit 1993 bzw. 1997 Militär-Geschichte.

Weiter existent sind aber die luft- und seegestützten Komponenten. Die salopp "Force de Frappe" (Schlagmacht) genannten Atomstreitkräfte verfügen mit den Flugzeugtypen Mirage 2000 N und Super-Etendard, die von Land oder dem Flugzeugträger "Charles de Gaulle" starten können, sowie vier Atom-U-Booten über geeignete Waffenträger. Die luftgestützten Waffen haben eine Reichweite von mindestens 1500 Kilometern. Die Einführung des leistungsfähigeren Flugzeugtyps "Rafale" wurde aus Kostengründen zeitlich etwas gestreckt.

Die schwer aufspürbaren U-Boote der "Force Oceanique Strategique (FOST)" verleihen Frankreich eine Zweitschlagsfähigkeit. Das heißt, Frankreich könnte im Extremfall seinen Gegner atomar noch vernichten, wenn es selber schon zerstört ist. Die je 16 Interkontinentalraketen des Typs M 45 in den Schächten der U-Boote haben bis zu sechs Sprengköpfe und eine Reichweite - je nach Quelle - von mehr als 4500 und bis zu 10 000 Kilometern.

Insgesamt verfügt Frankreich über rund 350 Atomsprengköpfe - das ist relativ wenig im Vergleich zu den Arsenalen der USA und Rußlands, aber sehr viel, wenn sie tatsächlich eingesetzt würden. Man bedenke: Die US-Bombe "Little Boy", die am 6. August 1945 die japanische Stadt Hiroshima vollkommen vernichtete, hatte eine Sprengkraft von 13 Kilotonnen - die Köpfe der französischen M 45 haben gut die zehnfache Zerstörungskraft.

Frankreichs Nuklearstrategie war im Ost-West-Konflikt zunächst an die klassische Strategie angelehnt: Einsatz nur im Verteidigungsfall gegen eine andere Atommacht. Auf das Konzept der "massiven Vergeltung" folgte auch hier die "flexible Reaktion" - der strategischen Groß-Ebene der von den USA bestimmten Nato entsprechend. Doch inzwischen wird unter "flexiblem Einsatz" etwas ganz anderes verstanden als im Kalten Krieg.

Das Phänomen der "asymmetrischen Kriegsführung" - sprich des Terrorismus - hat die französischen Planungen ebenso erschüttert wie die amerikanischen. Und wie ihre Kollegen jenseits des Atlantiks entwickeln auch die Franzosen sogenannte "Mini-Nukes", atomare Gefechtsfeldwaffen geringer Sprengkraft für den Einsatz etwa gegen verbunkerte Operationszentralen oder tief in die Berge gegrabene al-Qaida-Kommandozellen. Bis 2010 sollen sie einsatzbereit sein.

Schon im Juni 2001 hatten Chirac und seine Verteidigungsministerin Michele Alliot-Marie eine ungewöhnlich scharfe Warnung vor einem nuklearen Gegenschlag an solche Staaten gerichtet, die Massenvernichtungswaffen entwickeln und womöglich gegen Frankreich einsetzen könnten. Chirac hat sie jetzt verstärkt - offenbar nicht zuletzt an die Adresse Irans gewandt.

Damit vollzog Frankreich ebenso wie die USA eine strategische Wende. Mini-Nukes machen einen Atomkrieg führbar; ihre Einführung spricht allen Bemühungen der letzten Jahrzehnte Hohn, die Schwelle zum Atomkrieg komfortabel hochzuhalten.

Und zum ersten Mal seit dem US-Angriff auf Japan müssen nun auch Staaten mit Atomangriffen rechnen, die selber keine Nuklearmächte sind - aber über andere Massenvernichtungswaffen verfügen. Doch die fortschreitende Entwicklung chemischer und biologischer Waffen hat die früher scharfen Grenzen zwischen konventioneller und atomarer Kriegsführung ohnehin gefährlich verschwimmen lassen.