Abschreckung: Ändert Frankreich seine Nukleardoktrin? “Wer den Einsatz von Massenvernichtungswaffen erwägt, muß mit einer angepaßten Antwort rechnen.“

Paris/Teheran. Staatspräsident Jacques Chirac hat Staaten, die in Frankreich Terroranschläge verüben sollten, unverhohlen mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht. Auch "die Garantie unserer strategischen Versorgung und die Verteidigung verbündeter Staaten" könnten zu den Interessen zählen, die den Einsatz von Kernwaffen rechtfertigten, sagte Chirac gestern auf dem Atom-U-Boot-Stützpunkt Ile Longue in der Bretagne. Der französische Staatspräsident nannte keine Staaten, doch es wurde deutlich, daß der Iran gemeint sein könnte.

"Die Führer von Staaten, die gegen uns auf terroristische Mittel zurückgreifen, sowie alle, die in der einen oder anderen Weise den Einsatz von Massenvernichtungswaffen erwägen", müßten mit einer "angepaßten" Antwort Frankreichs rechnen, sagte Chirac. Diese Antwort würde sich nicht auf konventionelle Waffen beschränken. Der Präsident nannte den Kampf gegen den Terrorismus als vorrangige Aufgabe, doch dürfe man "die Versuchung gewisser Staaten, sich unter Bruch der Verträge mit Atomwaffen auszustatten", nicht vergessen.

"Unsere Welt wird vom Auftauchen von Machtansprüchen geprägt, die auf dem Besitz atomarer, biologischer oder chemischer Waffen beruhen", sagte Chirac. Frankreichs Atomwaffenarsenal sei so beschaffen, daß Paris "flexibel" auf eine Bedrohung antworten könne. "Gegen eine Regionalmacht haben wir nicht nur die Wahl zwischen Untätigkeit und Vernichtung."

In Berlin wurden Chiracs Äußerungen mit Skepsis aufgenommen. Der außenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Eckhart von Klaeden, sagte: "Die Äußerungen sind zum jetzigen Zeitpunkt unglücklich." Sein Kollege von der SPD-Fraktion, Walter Kolbow, sagte, nach der Überzeugung der SPD gehöre der Einsatz von Atomwaffen nicht zur Reaktion auf terroristische Angriffe. Der Grünen-Verteidigungsexperte Winfried Nachtwei nannte Chiracs Drohungen "abenteuerlich und unverantwortlich".

Die Worte des Staatspräsidenten lassen durchaus die Interpretation zu, daß Frankreich seine Abschreckungsdoktrin neu definiert. Bisher behielt sich Paris den Einsatz von Kernwaffen nur für den Fall einer Bedrohung seiner territorialen Integrität, seiner Bevölkerung und Souveränität vor. Jetzt erklärte Chirac, der Präsident müsse auch "das Ausmaß der potentiellen Konsequenzen einer Bedrohung" oder "unerträglichen Erpressung" auf die strategische Versorgung und Verbündete prüfen.

Vor allem den Hinweis auf die Energieversorgung legen Beobachter als einen direkten Fingerzeig an den Iran aus. Die westlichen Staaten haben die Befürchtung, die Islamische Republik Iran könnte Atomwaffen bauen und Israel damit bedrohen. Und bei der weltweiten Energieversorgung spielt der Ölstaat Iran eine wichtige Rolle.

Bei Außenministergesprächen in Moskau konnten sich Rußland und Frankreich gestern nicht über das weitere Vorgehen im Atomstreit mit Iran einigen. Während der französische Minister Philippe Douste-Blazy für die Einbeziehung des Weltsicherheitsrats warb, wollte sein russischer Kollege Sergej Lawrow das Problem weiter bei der Internationalen Atomenergie-Behörde belassen.

Deutschlands Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) betonte gestern in Kairo, daß die EU-3-Länder - Deutschland, Frankreich und Großbritannien - an einer diplomatischen Lösung interessiert seien. Es spreche nichts dafür, daß "irgend jemand der Beteiligten eine militärische Option im Kopf hat".