Hamburg. Es gibt Verbrechen, die sich in ihrer Dimension mit dem Verstand nicht fassen lassen. Amstetten ist so eine monströse Gewalttat. Dass ein Vater sein eigenes Fleisch und Blut unter sexuellem Lustempfinden oder zur sadistischen Befriedigung fast ein Vierteljahrhundert lang in ein Kellerverlies sperrt, vergewaltigt und versklavt - nein, da werden am Ende alle psychopathologischen Erklärungen versagen. Die Gemüter werden sich nicht beruhigen. Weil die Tat zutiefst unmenschlich ist.

Ist sie das? Tatsächlich kennt die menschliche Fantasie keine Grenzen, wenn es darum geht, Kindern unermessliches Leid anzutun. Der mündige Bürger will nur das Beste für sein Kind? Kinder werden halb tot aus vermüllten Wohnungen gezogen, jämmerlich verhungern gelassen, aus Fenstern geworfen, in Blumenkästen verscharrt. Josef F. hat die Leiche eines seiner totgeborenen Enkel in der Heizungsanlage verbrannt. Und seine Tochter, mit der er noch sechs Kinder zeugte, hat er im Keller lebendig begraben. 24 Jahre lang. Elisabeth hat überlebt. Was dieses Martyrium in der gequälten Seele der heute 42-Jährigen zerstört hat, lässt sich nicht einmal erahnen.Ein Trauma!

Die Öffentlichkeit begleitet den Inzest-Skandal mit Neugierde - und einem durchaus ehrlich gemeinten Mitgefühl. Das ist eine Art kollektives "Mitleiden" in einer Gesellschaft, die ihre moralischen Grenzlinien immer weiter verschiebt und nun überrascht in Abgründe blickt. Früher bezog sich das mediale Interesse bei Gewalttaten vor allem auf die Täter. Die Opfer blieben meist anonym. Ihr Schicksal mag einen Sozialarbeiter um den Schlaf gebracht haben. Die Öffentlichkeit erfuhr kein Wort. Am Ende hat sich dann der Weiße Ring um die Opfer gekümmert.

Spätestens seit dem Fall der 18-jährigen Natascha Kampusch, die sich nach achtjähriger Kellerhaft aus der Gewalt ihres Entführers befreite, und dem Fall der 13-jährigen Stefanie, die eine fünfwöchige Dauervergewaltigung erleiden musste, ist das anders. Emotionen steigern Einschaltquoten und Auflage. So ist eine Art Nachfrage entstanden nach guten Opfern und bösen Tätern. Man liebt Opfergeschichten in allen Details, solange sie nicht zu unappetitlich sind. Deutschland sucht das Superopfer.

Das gilt auch für Österreich. In dem skandalträchtigen Land sitzt der Schock besonders tief. Der Biedermann einer katholischen Kleinstadt ist nach 24 Jahren als Menschenschinder und Kinderschänder entlarvt. Da stellt sich natürlich vor allem die Frage, warum keiner, aber auch gar keiner etwas bemerkt hat. Die Ehefrau von Josef F. nicht, die ohne jede Nachfrage die Kinder aufgezogen hat, die die "verschwundene" Tochter angeblich heimlich vor die Haustür gelegt hatte. Die Behörden nicht, die sich mit der Behauptung des Täters abspeisen ließen, die Tochter sei in den Fängen einer Sekte, statt nach der jungen Frau zu forschen. Die Nachbarn nicht, die lediglich bezeugten, Josef F. habe "immer so freundlich gegrüßt". Hat wirklich niemand bemerkt, wie der Täter jahrelang seine Gefangenen in der Parallelwelt des Kellers mit Lebensmitteln, Kleidung, Einrichtung, Klopapier und Windeln versorgte?

Wer hat da nicht hingesehen - und wer wollte nicht hinsehen?

Beim Versuch, diese unbequemen Fragen zu beantworten, stößt die Wohlstandsgesellschaft schnell an Grenzen. Und lässt es dann wieder bleiben. Es fehlt an Ausdauer, zumal die Erkenntnis ja längst Allgemeingut ist, dass seelische und körperliche Misshandlungen von Kindern kein Unterschichtphänomen sind. Und nicht einmal in Familien ist dies ein Tabu: 75 Prozent aller Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen geschehen in der eigenen Familie. Mit hoher Dunkelziffer.

Wer ein Auto fährt, muss einen Führerschein machen und den Wagen regelmäßig dem TÜV vorführen. Wer ein Kind hat, muss davon nichts verstehen und kann mit ihm machen, was er will. Vor allem wenn es ihm gelingt, die Fassade der heilen Familienwelt aufrechtzuerhalten.

Wenn nun ein Kriminologe in Österreichs Inzest-Skandal dem Täter eine hohe, wenn auch fehlgeleitete "soziale Kompetenz" bescheinigt, dann verursacht das nur noch Übelkeit.