Nabil spielte Fußball und ging auf Partys. Doch plötzlich ist dem in Deutschland geborenen Teenager nur noch der Glaube an Allah wichtig. Er trifft Islamisten, spricht vom „Heiligen Krieg“. Die Mutterkämpft um ihren Sohn, will ihn zurückholen in sein früheres Leben. Sie bittet sogar die Polizei um Hilfe. Doch im Juli 2014 reist er nach Syrien. Die Geschichte einer gescheiterten Intervention

Auf dem Schreibtisch in Nabils Teenagerzimmer steht ein Foto im weinroten Holzrahmen. Der fünf Jahre alte Nabil versteckt seine dunklen Haare unter einer Mütze, unter dem Arm trägt er einen Teddy. Und in der Hand einen Koffer. „Istanbul“ steht dort. Der kleine Nabil geht auf Reisen. Kindergartenspielereien.

Lina* läuft zum Schrank neben dem Fenster. Sie öffnet die rechte Tür, hinter der fast ein Dutzend Schubladen eingebaut sind. „Alles war voll mit Nabils Schuhen“, sagt seine Mutter. Nabil liebte gute Kleidung, Markenklamotten von Tommy Hilfiger und Burberry. Dafür gab er sein Taschengeld aus. Neben dem Schrank steht ein zusammengeklappter Wäscheständer. „Seine guten Sachen durfte ich nicht waschen. Er hatte Angst, dass ich sie kaputtmache.“ Jetzt sind die Fächer für die Schuhe im Schrank leer. Nabil hat die meisten davon Freunden gegeben, bevor er ging.

Weit mehr als 450 junge Menschen sollen aus Deutschland bereits in den Dschihad nach Syrien, in den Irak oder nach Afghanistan gereist sein, etwa 40 kamen aus Hamburg, die Zahl steigt. Was sie dort genau tun und wem sie sich anschließen, ist den deutschen Behörden selten bekannt. Auch junge Frauen sind unter den Ausreisenden, auch Kinder von Lehrern oder Ärzten, auch deutsche Konvertiten. Am 22. Juli 2014 reiste Nabil, 19 Jahre alt, in Richtung Syrien. Vor zwei Monaten meldete er sich das letzte Mal bei Lina.

Nabils Zimmer in Wilhelmsburg ist aufgeräumt. Unter dem Flachbildfernseher stand mal eine Playstation. Zwischen dem Türrahmen hängt noch die Eisenstange für Klimmzüge. Nabil ging ins Fitnessstudio, spielte Fußball. „Der Fußboden war oft vollgekrümelt von Pizza oder Chips“, sagt Nabils Schwester Nadine. Häufig haben Nabils beste Freunde auf dem Sofa übernachtet.

Seitdem Nabil weg ist, schläft Lina jede Nacht in seinem Bett.

Die Schuhe sind weg, die Krümel auf dem Boden auch. Von Nabil bleiben die Erzählungen der Schwestern, die Geschichten seiner Freunde, mit denen Nabil in die Moschee ging. Und es bleiben die Erinnerungen einer Mutter, die ihren Sohn nicht aufhalten konnte. Deren Bild von diesem Staat erschüttert ist, weil auch die Hamburger Behörden Nabil nicht aufgehalten haben. „Niemand hat ihn aufgehalten.“

Lina trägt eine schwarze Hose, und über ihrem langärmeligen T-Shirt ein dunkles Kleid. Das Kopftuch umschließt ihr Gesicht eng. Lina spricht deutsch mit starkem Akzent, manchmal wechselt sie lieber ins Arabische.

Deutschland lebt noch im Rausch des Mauerfalls, als Lina im Januar 1990 in einer Lufthansa-Maschine aus Syrien nach Hamburg kommt, zu ihrem Mann. Sie verdient ihr Geld als Köchin in einem arabischen Restaurant, die drei Kinder kommen zur Welt. Doch 2001 geht die Ehe kaputt, Scheidung, Nabil ist sechs. Der Vater zahlt der Familie Unterhalt, der Kontakt zu seinen Kindern bricht ab. Für Nabil war es schwer, die Trennung zu verkraften, sagt die Mutter. „Er hat mir das nie ins Gesicht gesagt. Nabil ist still. Er frisst seine Sorgen und seine Wut in sich rein.“

Lina bringt Nabil das Radfahren bei, spielt mit ihm und seinen älteren Schwestern Verstecken, fährt mit ihnen in den Heidepark nach Soltau. Später, da ist Nabil ein Teenager, sitzen sie manchmal auf dem Balkon und rauchen Schischa. Lina backt Kuchen. „Ich habe immer versucht, für meine Kinder alles zu sein: Mutter, Vater und Kumpel.“ Nabil ist ihr einziger Sohn.

Religion ist der Familie immer wichtig. Lina liest ihren Kindern aus dem Koran vor, erzählt von den Propheten und davon, was der Koran erlaubt und was nicht: keinen Sex vor der Ehe, keinen Alkohol, das Gebet ist wichtig, Ehrlichkeit auch. Aber Lina weiß, dass sich Teenager nicht immer daran halten, das ist okay für sie, Normalität in Deutschland, Linas neues Zuhause. Und Nabils Heimat.

Nabil kickt mit anderen Jungs auf dem Bolzplatz oder daddelt auf der Playstation. An Wochenenden ziehen sie los, in Clubs auf dem Kiez oder ins Maxx in Wedel. Nabil duscht ausführlich, legt Parfüm auf. „Tschüs, Mama!“, ruft er zum Abschied. Lina räumt die Handtücher im Badezimmer zusammen und wischt den Fußboden. Freunde, Spaß und Party gehören zu einer Jugend in Deutschland dazu, denkt sie. Der Junge braucht seine Freiheit.

Doch irgendwann gehen die Kumpels nicht mehr in die Disco. Genug vom Stress, den sie mit anderen Männern in den Clubs hatten, genug vom Kater am Morgen. Und von den Gewissensbissen gegenüber Gott. Der Alkohol, die Mädels mit den kurzen Röcken auf der Tanzfläche. Alles haram, sagen sie. Verboten nach den Gesetzen des Islam.

Den Realschulabschluss schafft Nabil nicht. Im Sommer 2013 bittet er die Mutter, dass er seinen Abschluss auf einer Privatschule in Hamburg nachholen darf. Mehr als 300 Euro Gebühren im Monat kostet die Schule, plus Bahnfahrtkarte. Er wolle einen Abschluss machen. Es sei das Richtige für seine Zukunft. Lina freut sich über Nabils Ehrgeiz. Aber die Mutter hat auch die Sorge, dass Nabil die Schule nicht packen wird. „Nabil ist schlau, aber er ist auch faul.“

Als Nabil und seine Freunde wissen wollen, wie ein richtiger Muslim betet, geben sie die Suchworte bei Google ein. „Islam wie man richtig betet“, so etwa. Ein Video des salafistischen Predigers Pierre Vogel hat die meisten Klickzahlen. „Gebet lernen Schritt für Schritt“.

Oktober 2013, Nabil sitzt im Mercedes eines Kumpels. Auf dem Rückweg aus der Innenstadt kommt das Auto von der Straße ab. Nabil bleibt unverletzt, aber seinen besten Freund bringen die Notärzte auf die Intensivstation.

„Mama, wenn er nicht durchkommt, will ich auch nicht mehr leben.“ Nabil betet für ihn in der Moschee am Steindamm. „Es ist in Ordnung, mein Sohn. Der Glaube gibt dir Kraft.“ Der Freund überlebt.

Im Dezember fliegt Nabils Großmutter aus Syrien nach Hamburg. Sie leidet an einer Lungenentzündung. Lina will ihre kranke Mutter bei sich in Wilhelmsburg haben. Drei Tage vor Silvester stirbt sie. Die Familie begräbt sie auf dem Friedhof in Billstedt. Wieder ist der Junge in der Moschee und betet. Diesmal nicht für den Freund, diesmal für seine Oma. Die Schule wird ihm egal.

Für Nabil zählt nur der Islam, für den die Salafisten stehen. Der Islam der Mutter ist falsch. Dass sie raucht, sei haram. Dass sie Musik hört auch. Er begrüßt die Mutter mit einem Kuss auf die Hand und auf die Stirn. Nabil sagt jetzt nicht mehr „Tschüs, Mama“, sondern „As-salamu Alaikum“, Friede sei mir dir. Die Mutter freut sich über die guten Manieren des Sohnes. Beten statt Partys und Alkohol. Was kann daran schlecht sein? Aber der neue Bart, muss der so lang sein? Nabil besucht jetzt oft mit seinen Freunden die Taqwa-Moschee, ein kleines Haus in einer Nebenstraße in Harburg, die Fenster sind mit Pappe abgeklebt. Manche der Männer, die in diese Moschee kommen, verteilten schon Korane an sogenannten „Lies“-Ständen in der Innenstadt oder waren bei Demonstrationen von Predigern der Szene. Der Verfassungsschutz sieht das Gotteshaus als Treffpunkt der radikalen Salafisten in Hamburg.

Die Mutter war nie in der Taqwa-Moschee. Mit wem Nabil und seine Freunde ihre Freizeit verbringen, weiß sie nicht. Der Junge ist jetzt erwachsen.

Im März 2014 fällt Nabil an der Privatschule durch die schriftlichen Prüfungen. Als klar ist, dass er seinen Abschluss nicht schafft, schwänzt er den Unterricht. Die Schule meldet sich bei Lina. Nabil komme zu spät, sei nicht in der Klasse erschienen. „Nabil, was ist los?“ Der Junge findet Ausreden: Der Bus kam zu spät, Bauarbeiten, so was. Lina wird wütend.

Nabil sei ein unauffälliger Schüler gewesen, sagt der Schulleiter. Bis zuletzt. Zwar fiel der Bart auf, den er sich im Winter wachsen ließ. „Aber das ist ja bei vielen Mode.“ Vom „Heiligen Krieg“ oder dem Höllenfeuer habe Nabil in der Klasse nicht geredet. Es gibt Jugendliche an der Privatschule, die machen Stress und pöbeln Lehrer an. Nabil habe nie dazugehört, sagt der Schulleiter. Am Ende kommt der Junge einfach nicht mehr zum Unterricht. Er verbringt viel Zeit mit Freunden in der Taqwa-Moschee.

Es wird Frühling in Hamburg. Zu Hause sitzt Nabil mit Freunden im Zimmer, sie schreiben Verse des Korans auf, lernen die Ausrufe der Prediger. „Al-Hamdu li-Llāh“, Lob sei Gott. „Bismi’llāhi“, im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes. Nabil und seine Kumpels kleiden ihre Sprache in religiöse Frömmigkeit. Für Gebete in der Moschee gibt es „Extrapunkte“ bei Allah. Die Freunde glauben an ihre Mission. Irgendwann reicht Nabil das Beten nicht mehr.

„Ich weiß, dass es ihm dort gut geht“, sagt Nabils Hamburger Freund Yasin

Yasin sitzt am Tisch in Linas Wohnzimmer. Er ist oft bei der Familie zu Besuch, auch jetzt, nachdem Nabil in Syrien ist. Er kennt Nabil seit der Grundschule. Yasin ist 20 Jahre alt. Er trägt eine Brille mit schwarzem Rand. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht, wenn er von den Jahren mit Nabil erzählt, in denen sie Partys gefeiert haben oder nach der Schule mit den Mädchen aus der Klasse am Döner-Imbiss abgehangen haben.

Redet Yasin von der Hölle und den Gesetzen Allahs, wird sein Ausdruck ernst, kehrt die Radikalität in seine Sprache zurück. „Wir wollen den Menschen nur helfen. Wir sehen, wie die Ungläubigen in einem brennenden Haus schlafen. Wir wollen sie vor dem Feuer retten. Der Islam ist der einzige Weg ins Paradies.“ So hat auch Nabil geredet. Für ihn liegt der Dschihad in Syrien auf diesem Weg ins Paradies.

Sein Freund Yasin bleibt in Hamburg. „Nabil hielt das für richtig. Ich konnte ihn nicht irgendwo anketten.“

Über das Handy hatte Yasin noch Kontakt zu Nabil. Viel habe er nie geschrieben, ein paar Sätze. Aber er fragte, wie es allen in Hamburg gehe, Freunden, der Familie. „Ich weiß, dass es ihm gut geht“, sagt Yasin. Wenn es für Nabil in Syrien nicht richtig wäre, würde er sofort zurückkommen, egal wie. Mit dem Auto über die Türkei, zur Not mit dem Privatjet. „Nabil ist ein schlauer Mensch.“ So sieht Yasin es. Im Moment hat er keinen Kontakt zu Nabil. Yasin ist in Hamburg, sein Freund im Kriegsgebiet. Zwei Welten. Und bei Yasin wachsen die Zweifel an dem IS.

Dass unschuldige Menschen sterben, lehnt Yasin ab. „Menschen abzuschlachten, das ist nicht richtig.“ Aber die Idee eines islamischen Staates, die Scharia, sei richtig. „Ein Land, in dem wir als normale Menschen angesehen werden. Nicht als Salafisten.“

Vor dem Drogeriemarkt in der Harburger Fußgängerzone bleibt ein junger Mann mit Bart und Jogginghose kurz stehen. Seinen Namen will er nicht nennen. Er kenne Nabil aus der Moschee. Hier in Harburg hätten er, Nabil und ein paar andere junge Männer oft gestanden und „Dawa gemacht“, die Menschen zum Islam gerufen. Sie verteilten Korane, wollten Passanten überzeugen, dass nur ein „wahrer Muslim“ ins Paradies komme.

Der Mann wischt mit dem Finger über sein Smartphone. Er spielt ein Video vor. Eine Gruppe Jugendlicher und junger Männer im Park. Einer grillt Hähnchenschenkel und Frikadellen, andere spielen Fußball. Auch Nabil ist auf dem Video.

Wer hat Nabil verraten, dass Lina aus Sorge um ihn bei der Polizei war?

Im Sommer merkt Lina, wie sich ihr Sohn immer mehr zurückzieht, in den Glauben, in den Fanatismus.

Erzähl mir von der Moschee, Nabil.

Das sei seine Sache.

Als der radikale Prediger Pierre Vogel im Sommer nach Wilhelmsburg zieht, erzählt Nabil seiner Mutter davon. „Kann ich den Herrn Vogel denn mal treffen, so als neuen Nachbarn?“ Nein, das gehe nicht. Nabil baut eine Mauer um sein Leben als Salafist.

Es wird Sommer in Hamburg. Und auf einmal spricht Nabil vom Dschihad.

Wer ein richtiger Muslim sei, müsse auch in den „Heiligen Krieg“ ziehen. Die Brüder und Schwestern in Syrien und Afghanistan bräuchten seine Hilfe. Er wolle kämpfen. Die Kinder und Frauen sollten nicht länger leiden. Für ein Syrien ohne Diktator Baschar al-Assad. So hat es Nabil seiner Mutter erzählt.

Lina sagt ihrem Sohn, dass der Kampf eines guten Muslims sei, die Schule fertig zu machen, eine Arbeit zu finden. „Das Geld, das du verdienst, kannst du deinen Verwandten in Syrien schicken. Dschihad ist nicht, wenn der ein Muslim den anderen tötet.“

Er mache doch nur Scherze.

Doch am nächsten Tag streiten sie wieder. Lina glaubt nicht an einen Scherz.

Ein YouTube-Video zeigt Nabil auf einer Demonstration vor dem Hauptbahnhof in Hamburg. Nabil trägt eine gelbe Weste über seinem Polohemd. „Ordner“ ist auf die Weste gedruckt. Hinter ihm, auf der imbissbudengroßen Bühne, spricht Pierre Vogel in ein Mikrofon. Ein paar Hundert Salafisten sind in die Innenstadt gekommen, ein Dutzend Gegendemonstranten auch. Nach der Rede stellt sich Nabil in die Reihe der anderen Salafisten zum Gebet. Fuß an Fuß, Schulter an Schulter. Dann knien sie sich auf die Steinplatten vor dem Hauptbahnhof. Im Hintergrund läuten Glocken der Innenstadt-Kirchen. Drei Tage später wird Nabil in Richtung Syrien aufbrechen.

Der Verfassungsschutz sieht in Vogel eines der Gesichter der islamistischen Bewegung in Deutschland. Wer Prediger wie Vogel googelt, stößt auf Videos, in denen er erklärt, warum das „Handabhacken bei Diebstahl“ von Gott bestimmt wurde und nicht infrage gestellt werden dürfe. In anderen Videos spricht er von einem islamischen Staat, in dem das Steinigen von Frauen bei Ehebruch Pflicht sei. „Wir wissen nicht, wie lange wir leben, aber wir müssen für diese Religion leben und sterben“, schreibt er 2013 auf seiner Homepage. Trotzdem gehört Vogel nicht einmal zu den extremsten Predigern.

„Die Radikalen haben mir meinen Jungen weggenommen“, sagt Lina.

Sie erzählt einem guten Freund von Nabils Schwärmereien vom „Heiligen Krieg“. Sie weint. Sie weiß nicht, was sie tun soll. Irgendwann sagt der Freund: „Lina, es ist besser, du gehst zur Polizei.“

Am Abend des 18. Juni, ein Mittwoch, steht sie in der Wache an der Stresemannstraße, der Freund begleitet sie. Lina erzählt einer Polizistin Nabils Geschichte. Seine Sprüche vom Dschihad, von Pierre Vogel und von den Besuchen der Taqwa-Moschee. „Ich will meinen Sohn schützen. Lieber soll er in ein Gefängnis in Deutschland als in den Krieg nach Syrien“, sagt sie. Und Lina sagt, dass Nabil niemals erfahren dürfe, dass sie ihn bei der Polizei angezeigt hat. Die Kripo werde sich bei ihr melden, sagt die Beamtin. Lina hat getan, wozu die deutsche Behörden in solchen Fällen raten. Gut fühlt es sich nicht an.

Ein paar Tage später, es ist ein Montag, kommt Lina vom Sport nach Hause in die Wohnung in Wilhelmsburg. Sie legt ihre Tasche zur Seite und zündet sich im Esszimmer eine Zigarette an. Dann kommt Nabil nach Hause.

„Mama, warum hast du mich bei der Polizei angezeigt?“ Nur weil er fünfmal am Tag bete? Nur weil er sich für den Koran interessiere? Sie mache alles kaputt! Nabil weint vor Wut.

„Weil du mein Sohn bist, habe ich dich bei der Polizei angezeigt. Weil ich dich nicht verlieren will im Krieg.“ Das antwortet die Mutter ihrem Sohn. „Geh in die Disco, geh wieder Party machen! Aber hör auf mit diesem Dschihad!“

Nabil geht in sein Zimmer. Er packt ein paar Hosen und T-Shirts in eine Tasche. Dann verlässt er die Wohnung.

Lina ruft Nabil auf seinem Handy an. Er reagiert nicht. Lina schreibt ihm eine SMS: „Habibi, Liebling, komm zurück.“ Nichts.

Am Tag darauf trifft Lina die Polizistin. „Von wem hat Nabil erfahren, dass ich bei der Polizei war?“ Ihre Anzeige sei geheim gewesen. „Aber nichts ist geheim geblieben!“

Es ist nicht eindeutig zu klären, wie Nabil von der Anzeige der Mutter erfahren hat. Die Polizei hat nach eigenen Angaben geprüft, ob bei den Ermittlungen etwas nach außen gedrungen sein könnte. „Von uns hat der Sohn von der Anzeige nicht erfahren“, sagt ein Polizeisprecher. Es sei bedauerlich, wenn in diesem Fall der Eindruck entstanden sei, dass die Polizei nicht vertraulich arbeite. „Wir helfen den Familien in dieser schwierigen Situation, so gut es geht. Vertrauen ist dabei die Basis.“

Der Pass-Entzug ist ein schwerer Eingriff in die Bürgerrechte. Um einem Deutschen wie Nabil den Reisepass zu entziehen, brauche es konkrete Hinweise auf Pläne, sich im Ausland einer Terrorgruppe anzuschließen. Die Polizei habe ermittelt. „Doch darüber hatten wir in diesem Fall keine Erkenntnisse.“ Mehr will die Polizei nicht sagen: laufende Ermittlungen, Datenschutz.

Lina hat eine andere Vermutung: Ein naher Verwandter würde als Informant für die Behörden arbeiten. Er hätte Nabil von der Anzeige der Mutter erzählen können. Die Hamburger Polizei sieht dafür keine Anhaltspunkte.

Hätte Nabil nicht erfahren, dass seine Mutter bei der Polizei um Hilfe gebeten hat, wäre er vielleicht noch in Deutschland. „Bei mir“, sagt Lina. „So hat die Anzeige bei der Polizei alles nur noch schlimmer gemacht.“ Lina bleibt nur die Wut.

Einige Wochen später kommt Nabil nach Hause, nur kurz, packt frische Wäsche in seine Tasche. Lina sieht ihren Sohn nur noch selten.

Am 23. Juli, einem Mittwoch, mehr als einen Monat nachdem Lina ihren Sohn bei der Polizei gemeldet hat, kommt sie nach Hause. Die beiden Töchter sitzen am Tisch im Wohnzimmer. Auch der Verlobte der ältesten Tochter ist da.

Mama, Nabil ist in Syrien.

Am Tag davor, am Nachmittag des 22.Juli, fährt Nabil mit Freunden zum Hamburger Flughafen. Sie haben Geld für ihn gesammelt, 800 Euro etwa. Er wolle in den Urlaub in die Türkei, hat Nabil ihnen erzählt. Die Freunde fragen nicht viel. Nabil kauft sich ein Flugticket am Schalter. Eine Umarmung, eine Verabschiedung. Viel gesagt haben sie beim Abschied nicht, erzählen Freunde heute. Dann geht Nabil durch die Sicherheitsschleuse in Terminal 1 und verschwindet zwischen den Duty-free-Shops des Flughafens.

Lina will nicht glauben, dass Nabil ausgereist ist. Ihre Tochter zeigt auf ihr Handy. Nabil hat ihr eine Nachricht per WhatsApp geschickt mit der Ortung seines eigenen Handys. Gaziantep, eine türkische Stadt, 50 Kilometer entfernt von der syrischen Grenze. Und 2819 Kilometer von der Familie in Wilhelmsburg. Er habe schlechten Netzempfang, schreibt Nabil. Kurz darauf erreicht die Schwester noch eine Nachricht. Er sei jetzt in Syrien.

Lina schickt Nabil Nachrichten: Nabil, komm zurück! Bitte! Bitte! Bitte! Ich liebe dich! Doch Nabil reagiert nicht. Wenn sie heute davon erzählt, rollt eine Träne über ihre Wange.

In der Nacht des 24.Juli, etwa drei Uhr in der früh, klingelt Linas Handy. Er könne jetzt sprechen. Lina ruft durchs Telefon: Warum bist du weg, Nabil, mein Sohn? Die Mutter solle ihm verzeihen. Es sei sein Schicksal. Nabil und Lina verabreden sich zum Gespräch am Morgen. Freunde und Familie sind jetzt Nabils letzte Verbindung in seine Heimat.

Er erzählt, dass er in Jarabulus sei, einer kleinen syrischen Stadt, nur wenige Kilometer entfernt von der türkischen Grenze. Die Sonne scheine, habe Nabil erzählt, die Menschen gehen beten, alle Frauen tragen Schleier, alle leben nach der Scharia.

Er sei glücklich. Die Familie solle einfach auch kommen.

Du bist doch erst einen Tag dort, Nabil. Wie kannst du das alles schon durchschauen? Bist du bei dem IS?

Wenn sie IS oder ISIS sage, beleidige sie ihn, sagt Nabil seiner Mutter.

Einen Tag später ruft Nabil erneut zu Hause an. Weil er die Handynummer der Mutter nicht auswendig kann, ruft er auf dem Festnetz der Wohnung in Wilhelmsburg an. Der „Emir“, der Boss der Gruppe, habe ihm sein Handy weggenommen. Auch den Reisepass. Seine Stimme klingt ernst.

Nabil berichtet, dass er erst einmal nicht zu erreichen sei, sechs Wochen lang. Genaues könne er nicht sagen.

„Kann ich dich besuchen, Nabil?“

Das sei schwierig. Sie brauche dazu einen Mann. Alleine reisen dürfe sie als Frau nicht.

Lina erfährt, dass sich Nabil nun Abu Dawoud nennt, nach einem der Propheten im Islam.

Dass er tatsächlich bei der Terrorgruppe Islamischer Staat ist, dafür gibt es keine Beweise. Ob er kämpft, ist nicht klar. Anders als von manchen anderen deutschen Dschihadisten existieren im Internet keine Videos, in denen Nabil mit Waffen oder Kriegsgeräten zu sehen ist. Auch die Familie weiß es nicht.

In der Fußgängerzone von Harburg, in der Nabil und seine Freunde Korane verteilt haben, sagt der junge Mann in Jogginghose wenig über die Gruppen oder Personen, die eine Ausreise junger Islamisten über die Türkei nach Syrien organisieren. Nur so viel: Das organisieren nicht die Moscheen. „Es läuft viel einfacher. Ein paar Freunde sprechen sich ab, fassen ihre Entscheidung, dann kaufen sie sich Flugtickets und ziehen los.“ In Hamburg bekomme man eine Nummer, bei der man sich in der Türkei melden sollte. „Die helfen dir.“ Wer das sei und wer die Nummern verteile, könne er nicht sagen. Er sagt nur: „Ich hoffe nicht, dass die Jungs dort sterben.“

Er zeigt ein Foto auf seinem Handy. Ein Dutzend junge Männer posieren nebeneinander. Sie tragen gelbe T-Shirts. Ist das Leben nur ein Spiel?, steht dort. Gruppenfoto der Harburger Salafisten. „Der ist schon nach Syrien gereist. Der auch.“ Einer soll bereits tot sein. „Und das ist Nabil.“ Er trägt ein Baseballcap, den Schirm in den Nacken gedreht.

Nabil hatte andere Pläne: Arbeit, Geld verdienen, ein Haus bauen. Eigentlich

In den Tagen vor seiner Abreise habe Nabil von Syrien und dem Kampf der Islamisten geredet. „Ich habe noch gesagt: Nabil, das ist kein Kinderspiel. Dort herrscht Krieg. Du weißt nicht, an welche Leute du gerätst.“ Dass Nabil nur wenige Tage später losreisen sollte, habe er aber nicht geahnt.

Was der Mann sagt, lässt sich nicht überprüfen. Vieles, was er über die Ausreise junger Dschihadisten erzählt, stand bereits in den Medien. Dass der Verfassungsschutz die Gruppe und wohl auch ihn selbst beschatte, wisse er. „Das ist mir egal.“

Er selbst wolle nicht in den Krieg ziehen. Vom Terror distanziert er sich. Aber er schwärmt von einem islamischen Staat, in dem nicht Demokratie regiert, sondern das Gesetz Gottes. „Menschen machen Fehler. Gott nicht.“

Hat sie Fehler gemacht? Manchmal liegt Lina abends im Bett und fragt sich selbst ab. Hätte sie mehr Zeit mit Nabil verbringen sollen? Oder die Besuche in der Moschee verbieten? Aber wie soll eine Mutter ihrem erwachsenen Sohn das Leben dirigieren? Wäre alles anders gelaufen mit einem Vater im Haus?

Nachdem Nabil nach Syrien gereist ist, hat sie eine Spendenbüchse gebastelt. Sie ist mit Papier beklebt, in rosa Farbe steht dort: „Spenden für Waisenkinder“. Lina hat die Dose in den Schrank im Esszimmer gestellt. Ihren Töchtern sagt sie: „Wenn ihr für Muslime kämpfen wollt, dann spendet für Waisenkinder.“ Den Kampf als gute Gläubige könne man viel besser mit guten Taten austragen. Nicht mit Terror.

Am 14. September 2014 meldet sich Nabil bei seiner Mutter. Sie schreiben sich auf Arabisch über das Handy. „Nabil, ich muss dich sehen. Ich möchte mit dir das Opferfest feiern.“ Nabil schreibt, er sei in der Stadt Raqqa. Sie ist eine Hochburg des IS. Er lerne Arabisch. Treffen könnten sie sich nicht. Und sobald er die Grenze überschreite, würden türkische Soldaten ihn ins Gefängnis stecken. Er vermisse die Familie.

Nabil würde nie unschuldige Menschen töten, sagt die Schwester.

Nabil wollte in den Dschihad ziehen, sagen Freunde.

Lina zeigt ein Foto. Nabil hat es ihr aus Berlin geschickt. Er steht vor dem Olympiastadion, Nabil lacht, legt den Arm auf die Schulter seines Halbbruders, Selfie mit FC-Bayern-Schal. Mai 2014. Zwei Monate vor der Reise nach Syrien. Er hatte doch andere Pläne. Bis zuletzt habe er davon erzählt, sagen Mutter und Schwester. Der Halbbruder besitzt eine Firma, das Geschäft in der Logistikbranche läuft gut. Dort wollte Nabil eine Arbeit beginnen, Geld verdienen, vielleicht ein Haus bauen und Kinder kriegen. Träume des Erwachsenwerdens.

* Namen geändert