Heute vor 100 Jahren erschießt ein serbischer Nationalist in Sarajevo den österreichischen Thronfolger. Das Attentat löst eine Krise aus, die im Ersten Weltkrieg gipfelt. Eine Rekonstruktion der Zufälle, die den Anschlag erst möglich machten

Endlich hat das Wetter umgeschlagen. Als Franz Ferdinand und seine Ehefrau Sophie Chotek am frühen Morgen des 28. Juni 1914 im Hotel Bosna in dem vornehmen, zwölf Kilometer südwestlich von Sarajevo gelegenen Kurort Ilidza aufwachen, strahlt die Sonne. Noch gestern hat es sintflutartig gegossen, sodass die österreichisch-ungarischen Truppen bei ihrem Manöver am Ivan-Sattel buchstäblich im Morast versunken sind. Am Nachmittag sah sich der bosnische Landesverwalter Oskar Potiorek gezwungen, die „Schlammschlacht“ vorzeitig abzubrechen. Franz Ferdinand, der österreichische Thronfolger, der eigens für das Manöver angereist ist, zeigt sich trotzdem zufrieden. Die Truppen haben allen Widrigkeiten getrotzt und ihr hohes Ausbildungsniveau unter dem Oberbefehl von Potiorek eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Der empfiehlt sich damit für höhere Aufgaben, Franz Ferdinand würde ihn, wenn die Zeit gekommen ist, gern gegen Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf austauschen. Zu diesem hat er kein gutes Verhältnis.

Es ist Sonntag, Zeit für den Kirchgang. Da es in Ilidza keine Kirche gibt, hat man im Hotel Bosna mit großem Aufwand eigens einen Kirchensaal eingerichtet, in dem Franz Ferdinand und Sophie um 9 Uhr eine kurze Heilige Messe feiern. Danach bleibt noch Zeit für das folgende Telegramm, das der Thronerbe an seine Kinder schickt: „Befinden von mir und Mami sehr gut. Wetter warm und schön. Wir hatten gestern großes Dinner und heute Vormittag den großen Empfang in Sarajevo. Nachmittags wieder großes Dinner und dann Abreise auf der Viribus Unitis. Umarme Euch innigst Dienstag, Papi.“ Auf der „Viribus Unitis“, dem Flaggschiff der k.u.k. Marine, ist das Paar schon die Adria-Küste bis zum Fluss Neretva gereist, bevor man auf die Eisenbahn umstieg.

Auch jetzt nutzt die Gesellschaft die Eisenbahn. Um 9.42 Uhr setzt sich der Hofsonderzug in Bewegung und erreicht 10.07 Uhr den Bahnhof von Sarajevo. Dort wechselt man in einen Konvoi bereitstehender Automobile, die um 10.15 Uhr ihre Fahrt durch die mit Fahnen und Blumen geschmückten Straßen beginnen. Für Ferdinand und Sophie ist es ein schöner Frühsommertag, den sie besonders genießen, nicht nur, weil es ihr Hochzeitstag ist, sondern auch, weil sie hier gemeinsam öffentlich auftreten können, was in Wien unmöglich wäre. Aufgrund ihrer nicht standesgemäßen Herkunft ist Sophie vom Hofprotokoll ausgeschlossen.

Für die zahlreichen in Sarajevo lebenden Serben ist es kein normaler Frühsommertag, sondern Vidovdan, ein Feier- und Gedenktag. Am Veitstag gedenken die Serben der Schlacht auf dem Amselfeld, in der das serbische Heer 1389 heroisch gegen die Osmanen verloren hat. Obwohl weder der Ausgang der Schlacht noch die Frage, ob sie überhaupt stattgefunden hat, historisch eindeutig geklärt ist, bildet sie den wichtigsten nationalen Mythos der Serben. Dass der österreichische Thronfolger ausgerechnet an diesem Tag das zwar schon lange besetzte, aber erst vor sechs Jahren annektierte Bosnien besucht, empfinden sie als Provokation.

Sieben Automobile umfasst der Konvoi, der von einem Polizeiwagen angeführt wird. Im zweiten Auto sitzt Fehim Effendi Curcic, der Bürgermeister der Stadt, in Begleitung von Regierungskommissar Edmund Gerde. Im dritten Wagen, einem österreichischen Sportcoupé mit sagenhaften 38 Pferdestärken, hat hinten Franz Ferdinand Platz genommen, neben ihm Sophie, auf dem gegenüberliegenden Klappsitz sitzt Oskar Potiorek. Die restlichen vier Autos sind von Polizisten und dem Gefolge besetzt. Sicherheitsvorkehrungen gibt es kaum, die Route, die entlang des Flüsschens Miljacka durch die Innenstadt zum Alten Rathaus führt, ist schon vor Wochen in den Zeitungen veröffentlicht worden. Der australische Historiker Christopher Clark schreibt in seinem Buch „Die Schlafwandler“: „Von einem Kordon aus Soldaten, der bei solchen Gelegenheiten für gewöhnlich am Randstein steht, war nichts zu sehen, sodass die Wagenkolonne praktisch ungeschützt an der dichten Menschenmenge vorbeifuhr. Sogar die eigene Leibwache fehlte: Ihr Chef war irrtümlich mit drei bosnischen Offizieren in ein Auto gestiegen und hatte den Rest seiner Männer am Bahnhof zurückgelassen.“

Unter den vielen Menschen, die die festlich geschmückten Straßen säumen und nun dem Konvoi zuwinken, befinden sich mehrere zu allem entschlossene Attentäter, allesamt Mitglieder der revolutionären Bewegung Mlada Bosna (Junges Bosnien). Einer von ihnen ist der 19 Jahre alte Gavrilo Princip, ein schmächtiger junger Mann, zugleich aber ein fanatischer Nationalist. Ihm geht es darum, mit der Ermordung des Thronfolgers ein Fanal zu setzen, um die Befreiung Bosniens und den Anschluss an einen großen serbisch-südslawischen Staat zu erreichen. Dafür scheint ihm jedes Mittel erlaubt zu sein. Der Veitstag, an dem sich an diesem 28. Juni 1914 die legendäre Schlacht angeblich zum 525. Mal jährt, ist ohnehin mit Gedenken an einen prominenten Attentäter verbunden: Der Legende nach soll sich der serbische Adelige Miloš Obilić 1389 ins osmanische Heerlager geschlichen und Sultan Murad I. ermordet haben, bevor ihn die Wachen entdecken und umbringen konnten. In Serbien gilt Obilić bis heute als Nationalheld, aber Princip hat noch ein anderes, sehr viel aktuelleres Vorbild. Es ist der serbische Student Bogdan Žerajić,der am 10. Juni 1910 in Sarajevo versucht hatte, den österreichisch-ungarischen Stadthalter Marijan Varesanin zu erschießen. Auf der Straße feuerte er aus einem Revolver fünf Schüsse, ohne den General zu treffen. Mit der sechsten Kugel erschoss er sich selbst. Er wurde im hintersten Winkel eines Friedhofs in Sarajevo auf einer Fläche beigesetzt, die für Selbstmörder und Ehrlose reserviert war, galt den serbischen Nationalisten aber als großes Vorbild. Princip pilgerte oft an das Grab und legte Blumen nieder. Hier hat er den Entschluss zu dem Attentat auf Franz Ferdinand gefasst.

Doch Gavrilo Princip ist an diesem 28. Juni 1914 nicht der einzige gewaltbereite Verschwörer auf den Straßen von Sarajevo. Mit dem ebenfalls 19 Jahre alten Druckergesellen Nedeljko Cabrinovic, dem gleichaltrigen gescheiterten Gymnasiasten Trifun Grabez und vier weiteren jungen Serben besteht das Kommando aus sieben Personen. Jeder von ihnen trägt kleine Bomben bei sich sowie geladene Pistolen und jeweils ein Päckchen Zyanid, um sich selbst umbringen zu können. Die Männer haben wohlweislich keine offiziellen und nachvollziehbaren Beziehungen zum serbischen Staat, wurden aber sehr wohl vom Belgrader Geheimdienst instruiert, ausgebildet und bewaffnet. Der eigentliche Drahtzieher ist Dragutin Dimitrijevic, der allgemein nur Apis genannt wird und nicht nur den militärischen Geheimdienst leitet, sondern auch zu den Schlüsselfiguren der nationalistischen serbischen Geheimorganisation „Schwarze Hand“ gehört.

Um 10.25 Uhr erreicht der Konvoi das Gebäude der Lehrerbildungsanstalt, wo sich Cabrinovic auf der Flussseite postiert hat. Blitzschnell zieht er eine Bombe unter der Jacke hervor, zerschlägt an einem eisernen Laternenpfahl das Zündhütchen und wirft sie gegen Franz Ferdinands Auto. Der Fahrer, der die Bombe im Flug wahrnimmt, reagiert geistesgegenwärtig und gibt Gas, sodass sie ihr Ziel verfehlt und erst unter dem nächsten Fahrzeug explodiert. Mehrere Insassen werden dabei verwundet. Cabrinovic schluckt seine Portion Zyanidpulver und versucht in die Miljacka zu springen. Doch das Gift ist offenbar überlagert, greift zwar Cabrinovics Magenschleimhaut an, tötet ihn aber nicht. Und er landet auch nicht im Fluss, sondern am Ufer, wo er schnell gefasst wird.

Zunächst sind alle Beteiligten wie erstarrt. Doch ausgerechnet derjenige, dem das gescheiterte Attentat gegolten hat, erweist sich als unfassbar leichtsinnig. Statt sofort die gefährliche Stadt zu verlassen, lässt Franz Ferdinand anhalten und erkundigt sich erst einmal nach dem Zustand seiner verwundeten Begleiter, um dann den Konvoi auf der ursprünglich vorgesehenen Route zum Rathaus weiterfahren zu lassen. Auf dem Weg dorthin stehen zwei weitere Selbstmordattentäter bereit, denen aber im entscheidenden Moment der Mut zum Handeln fehlt, sodass der Thronfolger um 10.30 Uhr unbehelligt am Rathaus eintrifft.

Was sich dort ereignet, ist Realsatire: Bürgermeister Curcic ist mit den Nerven am Ende und liest stotternd seine, angesichts des gescheiterten Attentats nun gänzlich unpassende Rede vom Blatt ab. „Hochbeglückt sind unsere Herzen über den gnädigsten Besuch“, sagt Curcic, als Franz Ferdinand die Beherrschung verliert und ihn anbrüllt: „Herr Bürgermeister! Da kommt man nach Sarajevo, um einen Besuch zu machen, und man wirft auf einen mit Bomben. Das ist empörend.“ Schließlich rettet Sophie die Situation, indem sie ihren Mann beruhigt, sodass der Bürgermeister seine Rede doch noch zu Ende bringen kann.

Sophie schlägt ihrem Mann vor, den Besuch lieber abzubrechen und allein zum Mittagessen zu fahren, doch Franz Ferdinand will das Programm auf jeden Fall absolvieren. Allerdings verfügt er, dass man zunächst nicht, wie ursprünglich geplant, zum neu eröffneten Landesmuseum fährt, sondern vorher noch zum Krankenhaus, wo er die verwundeten Offiziere besuchen will. Also setzt sich die Kolonne wieder in Bewegung, nur ist niemand auf die Idee gekommen, den Fahrern die Routenänderung mitzuteilen. Als der Chauffeur des ersten Fahrzeugs an der Lateinerbrücke wie ursprünglich geplant, nach rechts in die Franz-Joseph-Straße abbiegt und Franz Ferdinands Fahrer ihm folgt, greift Potiorek ein und ruft: „Halt, Sie fahren falsch! Wir sollen über den Appelkai.“ Gleich darauf kommen die Wagen zum Stehen, langsam rollt Franz Ferdinands Auto auf die Hauptstraße zurück und hält schließlich genau an der Stelle, an der sich Gavrilo Princip postiert hat. Der versucht, eine am Körper unter der Jacke befestigte Bombe zu lösen, was ihm in der Aufregung nicht gelingt. Schließlich greift er zur Pistole und gibt um 10.45 Uhr kurz hintereinander zwei Schüsse ab. Die erste Kugel durchschlägt die Wagentür, trifft Sophies Unterleib und durchtrennt die Bauchschlagader. Die zweite Kugel trifft Franz Ferdinand und zerfetzt ihm die Halsvene. Er ruft noch nach seiner Frau und flüstert schließlich: „Es ist nichts!“ Kurz darauf rasen die Autos zum Konak, dem noch von den Osmanen erbauten Sitz des Gouverneurs. Sophie stirbt während der Fahrt, der Thronerbe wird noch lebend in das Palais gebracht, ohne dass er das Bewusstsein erlangt. Als er gegen elf Uhr stirbt, läuten in ganz Sarajevo die Kirchenglocken.

Unmittelbar nach den Schüssen versucht Gavrilo Princip, sich zu erschießen, doch die Menschenmenge, die wütend auf ihn losgeht, schlägt ihm die Pistole aus der Hand. Es gelingt ihm nicht mehr, das Zyanid zu schlucken, bevor ihn Polizisten festnehmen. Da er mit 19 Jahren noch nicht voll strafmündig ist, droht ihm kein Todesurteil. Stattdessen wird er zu 20 Jahren Kerkerhaft verurteilt, die er in der Festung Theresienstadt verbüßt. Infolge der unmenschlichen Haftbedingungen erkrankt er an Tuberkulose und stirbt am 28. April 1918 im Alter von 23 Jahren.

Im kommunistischen Jugoslawien, im heutigen Serbien und in der bosnischen Teilrepublik Republika Srpska wird der Attentäter bis heute als Volksheld verehrt. Nach serbischen Presseberichten soll ihm zum 100. Jahrestag des Attentats auf dem Gelände der Belgrader Festung Kalemegdan ein Denkmal errichtet werden. In Sarajevo sieht man das anders: Die Lateinerbrücke, an der das Attentat geschah und die zur jugoslawischen Zeit nach Princip benannt war, trägt heute wieder ihren ursprünglichen Namen. Auch die Fußabdrücke, die den Standort des Attentäters kennzeichneten, sind heute verschwunden.