Der SPD-Chef und Vizekanzler hat im Poker um Spitzenjobs in Brüssel eine machtpolitische Prüfung zu bestehen

Berlin . Fast verlegen wirkt Martin Schulz an diesem Montagmorgen für einen Moment. Auf der Bühne, hinter einem Pult mit Mikrofon steht er im Willy-Brandt-Haus. Eben haben ihn die Mitarbeiter der SPD bejubelt, der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel gratuliert ihm wie schon am Wahlabend überaus herzlich. Danach überreicht Gabriel seinem Freund Schulz einen Strauß roter Blumen. Schulz nimmt ihn entgegen, die beiden Männer umarmen sich, dann blickt der Spitzenkandidat ein wenig verdutzt in das Foyer und fragt: „Wo legt man die Blumen denn hin?“ „Die packt man in ’ne Vase“, antwortet Gabriel, gewohnt schlagfertig. Eine konkrete Lösung für Schulz’ aktuelles Problem hat er aber auch nicht parat. Der Beschenkte drückt den Strauß kurzerhand Yasmin Fahimi in die Hand, der SPD-Generalsekretärin.

Vielleicht entwickelt diese Szene eine gewisse Symbolkraft für die kommenden Tage: Der SPD-Vorsitzende Gabriel ist seinem Kumpel Schulz aus tiefem Herzen dankbar, dass er seiner Partei kräftige Stimmengewinne und ein ordentliches Ergebnis ermöglicht hat. Nun aber benötigt Schulz, wo doch die konservative Europäische Volkspartei (EVP) nach bisherigem Stand stärkste Fraktion in Straßburg bleibt, eine konkrete Lösung. Eine eigene bunte Mehrheit mit Liberalen und Linken vermögen die Sozialdemokraten wohl nicht zu schmieden. Was also tun mit diesem Ergebnis?

Sigmar Gabriel hat da ein paar Ideen. Gut vier Stunden nach seinem Auftritt mit Schulz tritt er am Mittag abermals vor die Kameras. Die Zukunft Europas dürfe nicht von „Anti-Europäern“ mitentschieden werden, sagt Gabriel, und nennt die Forza Italia des ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi und die Fidesz, die vom umstrittenen ungarischen Regierungschef Victor Orbán geführt wird. Beide Parteien gehören der EVP und deren Fraktion im Straßburger Parlament an.

Gabriel sagt: „Für Berlusconi und Orbán muss man sich auch als deutscher Konservativer schämen.“ Aber der SPD-Chef hat auch gerechnet: Nach derzeitigem Stand zählt die EVP 214 Abgeordnete, die Sozialdemokraten 189. Der Vorsprung der Konservativen liegt bei 25 Mandaten – so viele, wie Forza Italia (13) und Fidesz (12) haben. Die EVP habe über die Zusammenarbeit mit diesen „Rechtspolitikern“ zu entscheiden, sagt Gabriel, „wir haben das zu bewerten“. Er will darüber auch reden mit der Vorsitzenden der mächtigsten Partei in der EVP.

Die heißt Angela Merkel, ist CDUChefin, und kommt am Montagabend mit Gabriel und dem CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer zusammen. Die Chefs der Koalitionsparteien wollen über Milliarden für die Bildungspolitik und die Konsequenzen aus der Europawahl beraten. Gabriel dimmt die Erwartungen an das Treffen herunter. Mehr als eine „Verabredung über Verfahren“ werde es wohl nicht geben. Es käme einer „Hybris“ gleich, wenn die Große Koalition in Berlin nun beanspruche, die Weichen für die kommenden fünf Jahre der EU zu stellen. Seine demonstrative Bescheidenheit geht einher mit offensivem Selbstbewusstsein. Am Treffen des Europäischen Rates am Dienstag nimmt – neben den 28 Staats- und Regierungschefs – auch der deutsche Vizekanzler teil. Gabriel steht nach der Bildung der Großen Koalition vor einer weiteren machtpolitischen Meisterprüfung. Die SPD, die sich mit ihren gut 27 Prozent sehr stark vorkommt, will belohnt werden. Martin Schulz und die europäische Sozialdemokratie ebenfalls. Der Posten des Kommissionspräsidenten wäre eine echte Trophäe. Wenn er diesen nicht ergattert, muss er etwas anderes nach Hause bringen.

Erst einmal nimmt Gabriel die Rolle der EVP als stärkste Fraktion zur Kenntnis; bis auf Weiteres gehören ihr ja Forza und Fidesz an. Da der SPDChef aber um die Widerstände in der EVP – auch bei Merkel – gegen deren Spitzenkandidaten Jean-Claude Juncker weiß, rollt er diesem gewissermaßen den Teppich aus. Er dankt Juncker für den fairen Wahlkampf, vor allem aber betont Gabriel, die Sozialdemokratie bleibe bei ihrem Grundsatz: „Niemand darf und wird im Parlament eine Mehrheit finden, der nicht als Spitzenkandidat angetreten ist.“ Er erwarte, dass auch Merkel sich dieser Auffassung anschließe, „das halte ich für selbstverständlich“. Die EVP werde „Angebote machen müssen“, damit Juncker ein Plazet für den Präsidentenposten erhalte, sagt Gabriel – „das ist keinesfalls selbstverständlich“.

Den Anspruch seines Freundes Schulz untermauert Gabriel mit dem Hinweis, dieser werde die Verhandlungen führen. Gegen die Stimmen der sozialdemokratischen Parteienfamilie könne kein Kommissionspräsident gewählt werden. Über Wochen dürfte sich das Tauziehen um diesen Posten und die anderen EU-Spitzenjobs nun hinziehen. Vielleicht orientiert sich Gabriel in dieser Phase an seinem Vorbild Gerhard Schröder. Der hatte nach der Bundestagswahl 2005 die Kanzlerschaft für die SPD (und sich) beansprucht – in einem Regierungsbündnis mit der Union, die um einen Prozentpunkt besser abgeschnitten hatte.