NPD klagt gegen „Spinner“-Äußerung. Verfassungsgericht: Bundespräsident darf nicht meinungsschwach sein

Karlsruhe. Joachim Gauck war zwar nicht anwesend, aber doch allgegenwärtig. Schließlich verhandelte der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts auf der Basis dessen, was der Bundespräsident Ende August 2013 vor mehreren Hundert Schülern eines Berliner Schulzentrums gesagt hatte, darüber, was ein Bundespräsident im Allgemeinen sagen darf. Das Gericht erörterte also die Frage von Macht und Wirkung der Worte eines Mannes, der außerhalb seiner Wortmächtigkeit vergleichsweise machtlos ist. Gauck ist der erste Präsident, der wegen einer Äußerung im Amt vor dem Bundesverfassungsgericht verklagt wurde.

Zu verdanken hatte Gauck das Verfahren der NPD. Denn die sah in den Aussagen des Bundespräsidenten vor den Schülern eine „Verächtlichmachung und Schmähung“ ihrer selbst. So jedenfalls stellte es der juristische Vertreter der NPD, der Saarländer Anwalt Peter Richter, dar: Gauck habe sowohl seine Neutralitätsverpflichtung als auch die Chancengleichheit der Parteien verletzt, weil seine Worte in der Endphase des Bundestagswahlkampfes gefallen seien.

Was Gauck damals auf die Fragen der Schüler gesagt hatte – die sich ausdrücklich auch auf die NPD bezogen –, war einer breiten Öffentlichkeit bislang nur rudimentär bekannt. Richter Michael Gerhardt referierte daher noch einmal ausführlich aus einem Wortprotokoll. „Die Vertreibung aus dem Osten, die kommunistische Diktatur, alles hatte seinen Ursprung darin, dass die Deutschen sich überhöhten“, verlas er Gaucks Worte. Die Deutschen hätten als das auserwählte Volk gelten wollen und mit dieser Attitüde „andere erniedrigt, ausgebeutet, verfolgt und überfallen“. Er, Gauck, finde es „ekelig“, dass „in der Mitte unseres Volkes nun ausgerechnet rechtsradikale Überzeuger“ wieder Gehör fänden. Doch solange eine Partei nicht verboten sei, dürfe sie sich auch äußern.

Eine freie Gesellschaft könne solche Leute bekämpfen. Es beruhige ihn, dass sie in Deutschland bekämpft würden. Dazu brauche es allerdings nicht nur die staatlichen Instanzen, verlas Gerhardt und zitierte dann jenen Satz, der das Verfahren ins Rollen brachte: „Wir brauchen Bürger, die auf die Straße gehen, die den Spinnern ihre Grenzen aufweisen und die sagen: ,Bis hierher und nicht weiter.‘“ Und dazu seien alle aufgefordert.

Auf die konkrete Frage, was er von einem Verbot der NPD halte, schilderte Joachim Gauck demnach die Situation in seiner Heimat Mecklenburg-Vorpommern und meinte, die Gesellschaft müsse sich fragen, wie sie die Aktivitäten der Rechten eingrenzen, sie bekämpfen könne. Es sei eine Möglichkeit, die Partei verbieten zu lassen, wie es einige anstrebten.

Das Gericht macht sich die Entscheidungsfindung nicht leicht. „Unser Verständnis als Bürgerinnen und Bürger von den Befugnissen und Aufgaben des Bundespräsidenten ist nicht so sehr verfassungsrechtlich vorbestimmt, sondern geprägt von der Amtsführung insbesondere der ersten Bundespräsidenten als wirkmächtige Vorbilder sowie von allgemeinen staatstheoretischen Vorstellungen“, sagte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle. Das Grundgesetz enthalte „fast gar keine direkten Aussagen zur Art und Weise, wie der Bundespräsident seine Aufgaben erfüllen solle. Das Spektrum reicht hier vom Staatsnotar bis hin zum politischen Mediator und Hüter der Verfassung.“ Und so wirke die Autorität des Bundespräsidenten vor allem kraft seiner Persönlichkeit in Reden und Auftritten, „in denen er seine Meinung kundtut, warnt, mahnt und ermuntert“. Dabei aber „muss man damit rechnen, dass es auch mal einen gibt, der dieses Amt anders interpretiert. Und wir müssen uns fragen: Wo könnte es gefährlich werden für das demokratische Gefüge?“

In welche Worte darf ein Staatsoberhaupt diese Warnungen und Mahnungen fassen? Die NPD sieht sich durch Gaucks Aussagen „konkret angegriffen“, sagte deren juristischer Vertreter Richter. Schließlich hätten sich die Fragen immer wieder auf die NPD bezogen. „Das war so etwas wie eine regierungsamtliche Warnung vor der Partei“, befand er. „Und das wenige Tage vor der Bundestagswahl in einer Diskussionsrunde mit Erstwählern!“

Der frühere saarländische Ministerpräsident und heutige Verfassungsrichter Peter Müller wandte ein, Gaucks Äußerungen seien vor dem Hintergrund der Ereignisse um ein Asylbewerberheim in Berlin gefallen. Peter Richter blieb bei seiner Auffassung und fügte hinzu, die Formulierung, wenn die NPD verboten würde, befänden sich deren Mitglieder nicht in „irgendwelchen Lagern“, sei ein Verstoß gegen das Sachlichkeitsgebot. „Man stelle sich vor, der amtierende Vorsitzende der Antragstellerin hätte sich eines solchen Vokabulars bedient – die Staatsanwaltschaften hätten sich ein Wettrennen geliefert, Verfahren gegen ihn einzuleiten“, kritisiert der Anwalt. Die Äußerungen des Präsidenten grenzten an „Schmähkritik“. Der Satz könne so aufgefasst werden, als sei Gauck der Ansicht, die NPD-Mitglieder gehörten in Lagern inhaftiert. Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff deutete an, dass sie dieser Auslegung eher nicht folgen könne. Sie habe das jedenfalls nicht so verstanden.

Als Bevollmächtigter des Bundespräsidenten verwies der Bonner Jurist Joachim Wieland auf die besondere Rolle, die das Grundgesetz für den Bundespräsidenten vorsehe. Er allein trage die Verantwortung für seine Worte. „Er verschafft dem Gemeinwesen Gesicht und Würde. Mit treffenden Worten kann er zuweilen mehr bewirken als der Gesetzgeber mit einem Gesetz“, so Wieland. Und weiter sagte er: „Wo die Werte der Verfassung angegriffen werden, darf der Bundespräsident nicht neutral sein. Er darf auch nicht meinungsschwach sein.“

Auch Gerichtspräsident Voßkuhle gab zu bedenken, es könne Situationen geben, „in denen wir eine klärende Stellungnahme des Bundespräsidenten erwarten, auch wenn Parteien dabei eine Rolle spielen“. Wieland wies auch den Vorwurf der NPD zurück, Gauck habe sich mit der Bezeichnung „Spinner“ im Ton vergriffen. Ein Bundespräsident müsse sich dem jeweiligen Sprachniveau anpassen und bei einem Staatsakt anders reden als mit Schülern. „Ich würde ihm Polemik nicht untersagen“, sagte Wieland.

Wann das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung bekannt gibt, steht noch nicht fest.