Weggefährten sprechen über den SPD-Politiker Willy Brandt, der am Mittwoch 100 Jahre alt geworden wäre. Bis heute bleibt von Willy Brandt der Eindruck eines ungewöhnlichen Mannes in der Politik.

Willy Brandt gehörte zu den Schwergewichten der deutschen Politik. Emigration nach Norwegen und Schweden, Ostverträge, Kniefall von Warschau, Friedensnobelpreis – daran denken die meisten, wenn sie sich an den früheren Bundeskanzler (1969–1974) und gebürtigen Lübecker erinnern. Am 18. Dezember wäre er 100 Jahre alt geworden.

Aber woran erinnern sich seine Mitarbeiter und politischen Weggefährten? Das Abendblatt hat mit vier von ihnen gesprochen.

Klaus von Dohnanyi, 85, war seit Oktober 1969 erst parlamentarischer Staatssekretär und wurde am 15. März 1972 selbst Bundesminister für Bildung und Wissenschaft. Mit dem Rücktritt von Willy Brandt als Bundeskanzler im Mai 1974 schied Dohnanyi, später Hamburger Bürgermeister, aus der Bundesregierung aus.

„Willy Brandt war mein Bundeskanzler während meiner Arbeit in Bonn, aber ich hatte ihn auch schon vorher kennengelernt im Zusammenhang mit meiner Arbeit in den Wahlkämpfen der 60er-Jahre. In erster Linie trafen wir uns auf der politischen Ebene, aber wir hatten auch manche freundschaftliche Begegnung bei ihm zu Hause auf dem Venusberg in Bonn.

Willy Brandt war oft ein sehr nachfragender Chef; er wollte wissen, warum man zu bestimmten Ergebnissen oder Meinungen bei der Führung des Ministeriums kam. Er war zugleich aber auch ein Mann, der deutlich machen konnte, welchen Weg er selbst beschreiten wollte. Abwägend, aber auch entschlossen. Am meisten hat mich beeindruckt, dass Willy Brandt ein liberaler Sozialdemokrat war, ein Mann offen für neue Fragen, auch für Menschen, die anders dachten als er. Brandt beeindruckte viele durch sein weises Urteil über die Entwicklung unserer Zeit.

Bis heute bleibt von Willy Brandt der Eindruck eines ungewöhnlichen Mannes in der Politik – ein Charakter, freiheitlich und sozial orientiert und verständnisvoll für die sich verändernden Probleme dieser Welt. Es bleibt natürlich das Bild des Kniefalls von Warschau, aber Willy Brandt war mehr als dieser für ihn typische Augenblick. Er bleibt das Vorbild eines Demokraten als Politiker.“

Björn Engholm, 74, war von 1969 bis 1983 Mitglied des Bundestages als direkt gewählter Abgeordneter des Wahlkreises Lübeck. Zwischen 1988 und 1993 regierte Engholm als Ministerpräsident in Schleswig-Holstein und war von 1991 bis 1993 SPD-Parteichef.

„Herbert Wehner habe ich als Zuchtmeister respektiert, Willy Brandt hoch geachtet und verehrt. Als Lübecker hatten wir ein besonderes Verhältnis zueinander, Brandts Bindung an seine Geburtsstadt war im Herzen groß. Vor jeder Wahl sprach er traditionell während der letzten SPD-Kundgebung auf dem Lübecker Markt.

Willy pflegte eine liebevolle und leicht distanzierte Haltung zu sich und anderen, es ging dabei auch darum, sich selbst zu achten und wahren. Als junger Abgeordneter begleitete ich Willy Brandt auf einer Parteireise nach Finnland. Da waren alle, die im Land Rang und Namen hatten, zur Begrüßung angetreten. Brandt wurde im Ausland sehr bewundert und als eine große Persönlichkeit gesehen.

Brandt hat seine Wünsche und Vorstellungen immer auf eine Art und Weise klargemacht, dass jeder sein Gesicht wahren konnte. Er steckte mir oft kleine Zettel zu, auf denen er in gestochener Schrift anfragte, ob er diesen oder jenen Hinweis oder Rat geben dürfe. Rund zehn Wochen vor seinem Tod haben wir uns zum letzten Mal gesehen und noch einen guten Rotwein getrunken. Willy Brandt war eine Persönlichkeit und ein Typ Politiker, den es heute kaum mehr gibt.“

Monika Wulf-Mathies,71, war Redenschreiberin und Referatsleiterin im Kanzleramt, führte von 1982 bis 1994 die Gewerkschaft ÖTV und amtierte 1994 bis 1999 als EU-Kommissarin für Regionalpolitik und Kohäsion.

„Willy Brandt hatte wirklich Charisma und die Fähigkeit, einen Redeentwurf mit nur wenigen grünen Strichen – Grün ist die Farbe des Bundeskanzlers – in seine eigene Denke zu verwandeln. Jede Rede hat er durchgearbeitet, er war auch ein hervorragender Journalist. Ich bin Willy Brandt im Kanzleramt nicht wirklich nahe gekommen, ich war ja auch Anfängerin. Die Distanz war nicht zu überwinden, dafür war Brandt schon damals zu sehr Denkmal. Als ich ÖTV-Vorsitzende war, bekam ich freundliche Hinweise zu diesem und jenem. Aber da war ich auch in einer anderen Position.

In der verkrusteten Adenauer-Zeit weckte Brandt Aufbruchstimmung mit seiner Politik. Ich denke heute sehr viel über seinen Vorsatz aus der ersten Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 nach: ‚Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein und werden, im Innern und nach außen.‘ Das ist für Deutschland heute wichtiger denn je, sich nicht als Musterschüler zu sehen und die anderen als Schmuddelkinder zu betrachten.

In der Partei ist Brandt immer noch präsent, er gehört heute zur SPD-DNA. Mit seinen Zitaten liegt man in der SPD immer richtig.

Willy Brandt war der richtige Mann zur richtigen Zeit. Aber damals gab es noch die Bereitschaft, Menschen in einer Partei wachsen zu lassen. Seine vielen vergeblichen Anläufe zur Kanzlerschaft wären heute undenkbar. Jetzt geht es eher um schnelle Erfolge und Ranglisten. Brandt hat nach seiner Kanzlerschaft seine politische Rolle weiterhin überzeugend gespielt, hat sich um den Nord-Süd-Dialog, internationale Kooperationen und die Entwicklung armer Länder gekümmert. Er ist sich, seinen Werten und Prinzipien treu geblieben und hat kein lukratives Angebot aus der Wirtschaft angenommen. Willy Brandt stand für eine Politik, die Deutschland gutgetan hat.

Egon Bahr, 91, war jahrzehntelang Brandts engster politischer und persönlicher Weggefährte.

„Als Chef war Willy Brandt sehr angenehm. Wenn man ihm ein Manuskript gab, zeigte er Respekt vor dem Verfasser. Er hat nicht einfach verändert, sondern mit seinem Grünstift Anmerkungen gemacht. Man merkte, dass er Journalist war. Ich habe von ihm gelernt, lange komplizierte Sätze zu teilen und einfache, prägnante Aussagen daraus zu machen.

Das Lob war nicht Brandts Stärke. ‚Das ist in Ordnung‘, ‚es geht‘, ‚gar nicht so schlecht‘ waren seine seltenen Komplimente. Im Kabinett forderte er zu den interessanten Tagesordnungspunkten die jeweiligen Kollegen auf, zu sprechen. Brandt fasste danach die Beiträge so zusammen, dass alle zustimmten. Dieses Ergebnis wollte Brandt. Wenn er überhaupt jemanden abgekanzelt hat, dann unter vier Augen. In Skandinavien hatte er gelernt, nicht befehlen zu wollen, sondern überzeugen zu müssen – zusammenzuführen durch Diskussion und Überzeugung. Er verstand, dass auch andere Menschen keine Befehle befolgen wollten, und war ein gutes Beispiel dafür, dass Politik nicht den Charakter verderben muss. Brandt hat schnell die normative Kraft des Faktischen in der Politik erkannt und die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers nicht benutzt.

Seinem ältesten Sohn Peter gegenüber war Brandt besonders tolerant. Ich hatte den Eindruck, dass dabei auch ein Stückchen Wohlwollen war, weil Brandt Peters Jugend mit seiner eigenen verglich. Da stand er ja auch links von der SPD. Peter Brandt hat die Kurve gekriegt in der Erkenntnis, dass er seinem Vater nicht schaden wollte. Das hat Willy Brandt gesehen und anerkannt. Ein Politiker in dieser Spitzenposition gehört überdies kaum der Familie. Ich habe Brandt nicht gefragt, ob er intensiveren Kontakt zu seinen Söhnen vermisst hat. Man konnte Brandt nur näherkommen, wenn man ihm nicht zu nahe kam. Er bestimmte, wie weit er sich öffnete.

Was die Weiblichkeit anging, wusste Brandt, dass er attraktiv war, aber hat sich darüber amüsiert, was ihm alles angedichtet wurde. ‚Für wie potent halten die mich eigentlich?‘, fragte er einmal.

Willy Brandt hatte Charisma und Ausstrahlung auf Massen. Im Wahlkampf wollte er werben, überzeugen – und gewinnen. Nicht nur Menschen, sondern auch die Wahl. In der Partei kannte er fast alle Kreisvorsitzenden. Sie waren wichtige Pfeiler der Macht. Und er wusste, wann er wen anrufen musste. Nach seiner Überzeugung musste die Partei den Anspruch haben, das Land zu führen. Im Wahlkampf wurden seine Reden immer besser, und die letzte war dann die beste. Diese wurde dann traditionell in seiner Heimatstadt Lübeck gehalten.

War Willy Brandt ein Visionär? Man kann ihn nur als solchen bezeichnen, wenn man berücksichtigt, dass er mit beiden Füßen auf der Erde stand und dass er wusste, was innenpolitisch Macht bedeutet. In der Wahlnacht 1969 hat Brandt nach einem Gespräch mit Scheel die sozialliberale Koalition verkündet. Das war das Ergebnis seines überwundenen Zweifels. Wenn er so eine Entscheidung getroffen hatte, dann ließ er sich auch nicht mehr beirren und war unbeugsam. Wehner und Schmidt wollten die Fortsetzung der Großen Koalition. Wäre es dazu gekommen, hätte es die gesamte Ost- und Entspannungspolitik nicht gegeben.

Brandt war der Baumeister der Ostpolitik, ich der Architekt.

Dass Adenauer ausgerechnet in dem Augenblick, als der Mauerbau begann, diese dreifache Beleidigung – uneheliche Geburt und Emigration mit dem Namenswechsel ‚Brandt alias Frahm‘ – zusammengebunden hat, hat Brandt tief verletzt. Das war wie eine Wunde, die vernarbte, aber nie heilte. Deshalb hat es ihm bei der Verleihung des Friedensnobelpreises ungeheuer gutgetan, dass sein Name, den er sich gemacht hat, in diesem Zusammenhang mit seinem Volk und dem Frieden zusammengebracht wurde.

Ich bin unendlich froh, dass Brandt den Mauerfall und die Wende noch erlebt hat. Mitte der 80er-Jahre waren wir beide der Auffassung, dass die Einheit zwar kommen werde, wir beide sie aber wohl nicht mehr erleben würden. Am 9. November 1989 hatte ich nachmittags den Bundestag verlassen und sah abends zu Hause im Fernsehen, wie Menschen auf der Mauer tanzten. Brandt war als pflichtbewusster Mensch im Plenum geblieben und rief mich an. Er war von einer tiefen Freude erfüllt. Am nächsten Mittag flogen wir nach Berlin. Kurz nach dem Mauerbau hatte Brandt im Abgeordnetenhaus gesagt, er sei überzeugt, es werde der Tag kommen, an dem wieder zusammenwächst, was zusammengehört. Brandt konnte einen für ihn wichtigen Gedanken im Hinterkopf parken und bei Bedarf wieder hervorholen. Das wurde für den 10. November 1989 zugespitzt.

Als ich Willy Brandt zum letzten Mal gesehen habe, war ich beeindruckt, mit welcher Gefasstheit er dem Tod entgegensah. Die ganzen Kämpfe hatte er hinter sich, er hatte seinen Frieden gemacht. Er lag zwar, aber es wirkte, als ob er in Würde stand.

Aus heutiger Sicht kann ich sagen, dass Brandt ein Glücksfall für die Bundesrepublik war. Er wurde sowohl im Osten des Kontinents für seine antifaschistische Vergangenheit hoch geschätzt als auch im Westen für seine klaren Worte der Verurteilung der Berliner Mauer. Brandts Motto ‚Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts‘ bedeutet: Alle Werte wie Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und Solidarität kann man nicht stärken, fördern oder erhalten, wenn es Krieg gibt. Das gilt noch heute.“