Bundespräsident Joachim Gauck erinnert in Lübeck an den Politiker, der am 18. Dezember 100 Jahre alt geworden wäre. “Er war außergewöhnlich und herausragend.“

Lübeck. Er war ein norddeutsch unzugänglicher Mensch, der zeitweise unter Depressionen litt. Und er war ein großer Politiker, der in den nicht einmal fünf Jahren seiner Kanzlerschaft mit den Ostverträgen den Grundstein für die sehr viel später vollzogene Vereinigung der beiden deutschen Staaten legte. In Lübeck erinnerten am Mittwoch Politiker, Freunde und Familienangehörige an Willy Brandt.

„Er war außergewöhnlich und herausragend“: Auf diese schlichte Formel brachte es der österreichische Bundespräsident Heinz Fischer vor den rund 1500 Gästen in der Musik- und Kongresshalle, darunter sein deutscher Kollege Bundespräsident Johannes Gauck, der Schauspieler Armin Mueller-Stahl, Brigitte Seebacher-Brandt, das halbe Kieler Kabinett mit dem Ministerpräsidenten Torsten Albig (SPD) an der Spitze sowie weitere SPD-Granden wie Sigmar Gabriel, Björn Engholm, Wolfgang Thierse und Frank-Walter Steinmeier sowie der CDU-Politiker Bernhard Vogel.

Vor 100 Jahren, am 18. Dezember 1913, erblickte Brandt in Lübeck das Licht der Welt. Erwärmt hat es ihn nicht. Die Mutter, eine Verkäuferin, war mit der Erziehung überfordert. Den Vater, einen Hamburger Lehrer, hat er nie kennengelernt. Seine nicht eheliche Herkunft wurde ihm – heute kaum vorstellbar – in der Nachkriegsära von konservativen Politikern zum Vorwurf gemacht.

Seiner Popularität hat das damals nicht ernsthaft geschadet. 1969 und 1972 bescherte er den Sozialdemokraten klare Erfolge bei den Bundestagswahlen. Der Mann mit den attraktivsten Geheimratsecken der Bundesrepublik hatte Schlag bei den Frauen – und er hatte ein ernsthaftes politisches Anliegen.

Bundespräsident Johannes Gauck formulierte es in Lübeck so: „Die eine große Sehnsucht seines Politikerlebens, für die er so lange gekämpft hatte, als Berliner Bürgermeister, als Außenminister und Bundeskanzler – die Sehnsucht, es möge zusammenwachsen, was zusammengehört –, sie nahm noch zu seinen Lebenszeiten Gestalt an.“ Joachim Gauck zitierte damit Willy Brandts berühmte Kurzformel für den komplizierten Weg zur deutschen Einheit im Jahr 1990: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ Die Einheit, so der Bundespräsident, sei der gerechte Dank gewesen „für einen, der furchtlos, geschickt und pragmatisch nach Wegen gesucht hat, wo andere nur Mauern sahen“.

Der Bundespräsident beschrieb seine erste Begegnung mit Brandt: kurz nach dem Mauerfall, im Dezember 1989. Brandt war damals von Lübeck aus über die innerdeutsche Grenze nach Mecklenburg gefahren. Er besuchte zunächst den Geburtsort seiner Mutter, das mecklenburgische Kalkhorst.

In Rostock begrüßte ihn Gauck, damals Pastor, mit den Worten: „Da begegnen wir uns nun: Wir, das Volk, und Sie, der große Politiker. Ihr Wort ist uns wichtig.“ In Lübeck ergänzte Gauck gestern: „Das steht für mich auch heute noch im Präsens.“ Die zehn Bände der Berliner Ausgabe mit Reden und Schriften Brandts stünden „griffbereit“ in seinem Amtszimmer.

Gaucks österreichischer Amtskollege Heinz Fischer, Sozialdemokrat wie Brandt, zog eine Parallele zu dem vor wenigen Tagen verstorbenen südafrikanischen Ex-Präsidenten Nelson Mandela. Beide, Brandt und Mandela, seien für ihre Friedensarbeit „auf die denkbar vornehmste und eindrucksvollste Art von aller Welt bestätigt und gewürdigt worden, nämlich durch den Friedensnobelpreis“.

Das Geburtshaus des Friedensnobelpreisträgers ist von den Bombardements des Zweiten Weltkriegs, denen ein Teil der Lübecker Altstadt zum Opfer fiel, verschont geblieben. Der Stadtteil in Bahnhofsnähe besteht aus schlichten zwei- oder dreigeschossigen Häuschen. Immer noch ein Kleine-Leute-Viertel.

Die winzigen Vorgärten sind meist zubetoniert und dienen als Parkplatz. Das rot und hellblau gestrichene Gebäude an der Meierstraße 16 ist heute, gut 20 Jahre nach dem Tod des Lübecker Ehrenbürgers, an Wohngemeinschaften vermietet. Meist sind es Studenten. Wieder nehmen hier Lebenswege ihren Anfang. Willy Brandt hat gezeigt, wie lohnend es sein kann, vor Mauern und an Grenzen nicht stehen zu bleiben. Er ist weit, sehr weit gekommen.