Merkel droht Besuch in St. Petersburg vorzeitig abzubrechen und erzwingt, dass sie auf einer Ausstellung deutscher „Beutekunst“ sprechen darf

St. Petersburg. Wenige Politiker sind so erfahren in internationaler Diplomatie wie der russische Präsident Wladimir Putin und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Aber einen solchen Tag haben beide auch nicht oft erlebt: Aus einer Art Fingerhackeln auf offener Bühne ging am Ende Merkel als Siegerin hervor. Merkel war es auch, die einen bis dahin hinter den Kulissen schwelenden Streit am Morgen öffentlich gemacht hatte. Merkel verkürzte ihre Reise schon vor deren Antritt! Die legendäre Eremitage von St. Petersburg werde sie nun nicht, wie geplant, besuchen – so der neue Plan.

In der Eremitage wollte die Kanzlerin gemeinsam mit ihrem Gastgeber Wladimir Putin am Abend eine bemerkenswerte Ausstellung deutscher Beutekunst in Russland eröffnen. „Bronzezeit – Europa ohne Grenzen“ zeigt 600 Exponate, die vor dem Zweiten Weltkrieg in deutschen Museen zu sehen waren, unter anderem Schatzfunde von Heinrich Schliemann aus Troja, dessen „Schatz von Priamos“ fast komplett von der Roten Armee aus Berlin weggeschafft wurde. Das Gold war – wie die meisten damals geraubten Kunstgegenstände in Russland – lange weder zu sehen noch für Wissenschaftler zugänglich. Die Ausstellung bedeutet deshalb einen großen Schritt nach vorn, den Merkel würdigen wollte. Doch Merkel sollte die Ausstellung wortlos eröffnen – so hatte es sich jedenfalls Putin vorgestellt. Die vom Protokoll vereinbarten Ansprachen des russischen Präsidenten und der Kanzlerin müssten entfallen, hatte es zwei Tage vor dem Besuch plötzlich aus dem Kreml geheißen. Merkels Leute im Kanzleramt konnten es nicht glauben. Ein aus Berlin angereister Staatsgast sollte der Eröffnung nur beiwohnen und schweigend zwei Reden von Hermann Parzinger, dem Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, und der Direktorin der Eremitage hören? Eine Brüskierung.

Doch Merkels Mitarbeiter reagierten nicht sofort beleidigt. Zu sensibel ist das Feld „Beutekunst“: Die Duma, Russlands Scheinparlament, hatte 1998 in einem Gesetz pauschal die von sowjetischen Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg geraubten Kunst- und Kulturgüter zu „Staatseigentum“ erklärt. Deutschland hält dieses Gesetz für völkerrechtswidrig. Zuletzt gab es Hoffnung, dass von den über eine Million Kunstgegenständen wenigstens einige zurückgegeben werden, etwa solche, die nicht auf Befehl, sondern in sogenannten Einzelplünderungen entwendet wurden oder aus kirchlichen Beständen oder von Gegnern der Nationalsozialisten geraubt wurden. Andererseits liest man in der Bundesregierung mit Besorgnis Meldungen, dass die Duma solche Gesten des guten Willens mit einem neuen, noch schärferen Gesetz ausschließen will.

Vor diesem Hintergrund wollte Merkel nicht zusätzliches Öl ins Feuer gießen. Ihre Berater boten als Kompromiss an, dass die Kanzlerin ihre Rede beim Besuch der Ausstellung auf ein kurzes Grußwort beschränkt. Am Ende war gar von weniger als drei Minuten die Rede. Das Ganze überschattete den eigentlichen Anlass der Reise: Merkel besuchte das Internationale Wirtschaftsforum in Petersburg, eine Visite, die sich Putin im Gegenzug zu seinem Auftritt bei der Hannover Messe erbeten hatte. Begleitet wurde die Kanzlerin von einer hochrangigen Wirtschaftsdelegation: Eckhardt Cordes, der Vorsitzende des Ost-Ausschusses der deutschen Wirtschaft, nahm mit den Vorstandsvorsitzenden Kurt Bock, BASF, Jürgen Fitschen, Deutsche Bank, Peter Löscher, Siemens, Martin Winterkorn, VW, und Jim Snape, SAP, in der Regierungsmaschine platz.

Viel mehr geht nicht: Denn so kompliziert das deutsch-russische Verhältnis in historischen Angelegenheiten und bei Menschenrechten ist, so gut läuft es ökonomisch. Putins Riesenreich hat Geld: In St. Petersburg berichtete er stolz, Russland komme nicht nur ohne neue Schulden aus, sondern habe auch die Inflationsrate mit 6,3 Prozent auf ein für ein Schwellenland vernünftigen Wert gedrückt. Die Kanzlerin erklärte: „Deutschland will Russland in seinem Bemühen um Diversifizierung ein guter Partner sein.“

Doch Putin hatte, wieder wenig subtil, selbst beim Auftritt der Kanzlerin deutlich gemacht, welche Alternativen Russland hat: Unmittelbar nach Merkel sprach der chinesische Vize-Premierminister Li Lanquinq. Die Botschaft war klar: Wir haben nicht nur im Westen Abnehmer für unsere Rohstoffe. Putin applaudierte Merkel bei ihrer Rede vor allem, als sie auf die Bewältigung der Euro-Krise zu sprechen kam. Ihre Erklärung, warum es keine deutschen Hilfen ohne Reformen in Südeuropa geben kann, beendete sie mit dem Satz: „Deshalb müssen wir manchmal auch streng miteinander sein.“

Putin, der auch auf internationalen Gipfeln in den internen Runden der Staats- und Regierungschefs stets die deutsche Position der Haushaltskonsolidierung stärkt, fand dazu jetzt das interessante Bild: „Bevor man etwas hineinpumpt, sei es Kavier oder Honig, sollte man sicherstellen, dass das Fass einen Boden hat.“ Weniger einig ist man sich beim Thema Syrien. Putin argumentierte erneut, seine Waffenlieferungen an den Diktator Assad seien legitim, da dieser einem legitimen Regime vorstehe. Andere, damit waren unschwer Amerika und seine Verbündeten gemeint, rüsteten hingegen Rebellengruppen ohne Legitimität aus. Merkel erinnerte an den Anfang der Woche auf dem G8-Gipfel erzielten Kompromiss: Niemand unterstütze Terroristen, die Uno prüfe die Vorwürfe, Giftgas sei eingesetzt worden, alle wirkten auf eine Friedenskonferenz in Genf hin.

Bei der Pressekonferenz überraschte Putin, als er sagte: „Assad wird gehen. Wer wird dann kommen? Auf diese Frage gibt es keine Antwort.“ Damit hätte er erstmals den Diktator, den Russland stützt, aufgegeben. Auf Nachfrage ruderte er aber zurück: „Soll Assad gehen, soll Assad bleiben, welche Form der politischen Regierung soll entstehen? Das können nicht wir dem syrischen Volk vorschreiben.“ Merkel hörte das mit Interesse. Sie wusste da schon, dass sie den Tag gewonnen hatte. Denn unmittelbar zuvor hatte Putin im Gespräch mit Merkel nachgegeben. Er verkündete: „Abends werden wir mit der Frau Bundeskanzlerin die Ermitage besuchen.“ Merkel fügte hinzu: „Wir werden dort auch noch einmal etwas zu Ihnen sagen, was die Bedeutung dieser Ausstellung anbelangt.“