Beim Parteitag blenden die Parteispitzen den Streit um die Steuererhöhungen aus. Kretschmann lenkt ein

Berlin. Es war war der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann, der auf dem Parteitag der Grünen am Ende noch einmal so richtig für Stimmung sorgte. Ausgerechnet er mit seinem präsidialen Knarzen trieb die 800 Delegierten im Berliner Velodrom zu begeisterten Standing Ovations. Mit Sätzen wie diesen: „Wir stehen für Weitsicht. Wir haben einen langen Atem. Wir tragen Kontroversen aus. Wir täuschen keine Geschlossenheit vor, sondern streiten und stellen sie her.“

Mit den Kontroversen war das so eine Sache. Gewiss, vor dem Parteitag gab es die. Kretschmann und andere Realos meldeten öffentlich Bedenken an, dass die steuerlichen Belastungspläne in dem an diesem Wochenende zu beschließenden Bundestagswahlprogramm den Mittelstand schwächen könnten. Entsprechend groß war das Interesse an dem dreitägigen Parteitag.

2600 Änderungsanträge bewiesen die große innerparteiliche Demokratie

Doch auf diesem selbst wurden zu den wenigen konkreten Anträgen, in denen überhaupt einmal echte Einwände gegen die Steuerpläne formuliert worden waren, umgehend „konsensuale Formulierungen“ gefunden, wie sich Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke ausdrückte. Über diese Anträge wurde gar nicht mehr abgestimmt. Und der Einzige, der nicht nachgeben wollte, der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, wurde so eiskalt wie flott niedergestimmt. Daher entstand gerade keine Kontroverse, sondern der Eindruck, dass da etwas inszeniert worden war. Nur noch wie ein rhetorisches Spiel wirkte es, als Kretschmann in seiner Parteitagsrede mit Blick auf seine vorherigen Äußerungen sagte, dass es wohl „nicht so taktisch klug war, was ich da gemacht habe in der Steuerfrage“ – um dann, obwohl gar nicht diskutiert worden war, noch anzufügen, nun habe man „die richtige Balance“ gefunden.

Fiel somit ein Schatten auf die Streitkultur der Grünen, so hat sich die Partei ansonsten viel Mühe gegeben mit der inneren Demokratie. Zunächst hatten sie ihre Mitglieder darüber abstimmen lassen, mit welchen Spitzenkandidaten man in den Wahlkampf ziehen soll. Sodann konnte sich die Basis stärker als je zuvor an der Formulierung des Wahlprogramms beteiligen. Zum 160 Seiten starken Programmentwurf des Bundesvorstands gab es mehr als 2600 Änderungsanträge, die gesichtet, sortiert, zusammengefasst und in den Programmentwurf eingearbeitet werden mussten. Sämtliche strittigen Punkte wurden zur Abstimmung gestellt.

Auch deshalb war von der schon legendären Leidenschaft der Grünen für hitzige Debatten auf diesem Parteitag nichts zu spüren. Immer wieder mahnte die Parteitagsleitung zur Disziplin: Redet nicht so viel, setzt euch hin und hört zu. Das allerdings dürfte vielen Delegierten nicht immer leichtgefallen sein, schon am Anfang, als die beiden Spitzenkandidaten eher müde und uninspiriert sprachen. Jürgen Trittin bemühte zum wiederholten Mal bekannte Sprüche, etwa den zu deutschen Rüstungsexporten nach Saudi-Arabien: „Der beste Kunde von der Angela, das ist der König Abdullah.“ Katrin Göring-Eckardt sprach wieder und wieder von den „starken Grünen“, die es brauche, um Schwarz-Gelb abzuwählen und Deutschland zu erneuern. Beide referierten brav die Positionen von Atomausstieg bis Zuwanderung und listeten die Programmpunkte auf, die von den Delegierten mit meist großer Mehrheit auch angenommen wurden.

Anders als die Parteispitze wollen die Delegierten V-Leute sofort abschaffen

Die Delegierten folgten im Wesentlichen den Empfehlungen des Bundesvorstands. Für die meisten Änderungsanträge gab es keine Mehrheit. Abschaffung der EU-Grenzschutzagentur Frontex: abgelehnt. Grundsätzliches Verbot von Rüstungsexporten: abgelehnt. Zustimmung gab es für den Änderungsantrag, den Ausstieg aus der Kohlekraft bis 2030 festzuschreiben. Angenommen wurden auch eher kuriose Änderungswünsche wie der „Vielverdiener“ statt „Gutverdienende“ zu schreiben, und sich nicht gegen den winterlichen Verkauf frischer Himbeeren auszusprechen, sondern gegen den von Erdbeeren. Wesentlich gravierender war es, dass ein Änderungsantrag angenommen wurde, wonach der Verfassungsschutz keine V-Leute mehr einsetzen solle. Der Bundesvorstand hatte im Programmentwurf nur ein Moratorium des V-Leute-Einsatzes gefordert. Die Delegierten wollen gar nichts mehr mit jenen Leuten zu tun haben.

Sigmar Gabriel hielt als erster SPD-Vorsitzender auf einem Grünen-Parteitag eine Rede. Er betonte die Gemeinsamkeiten, beim Mindestlohn etwa, bei der Sozialpolitik oder der Frauenquote. Er wolle mit den Grünen eine neue, andere Richtung einschlagen. „Wir müssen die Zukunft zurück in die Politik holen.“ Eine rot-grüne Koalition müsse mehr sein als ein technisches Bündnis.