Die Partei hat ihre Ursprünge in der Anti-Atom-Bewegung, doch nun folgen Schleswig-Holsteins Grüne ihrem Energiewendeminister – und machen den Weg frei für die Einlagerung hochradioaktiven Abfalls im Land.

Früher wollten die Grünen unbedingt Teil des Widerstands gegen Atomkraft sein. Nun sagt Robert Habeck, grüner Energiewendeminister in Schleswig-Holstein: „Wir wollen Teil der Lösung der Atommüllfrage sein.“ Früher skandierten die Parteimitglieder: „Kein Atomkraftwerk in Brunsbüttel und anderswo“. Heute bietet eben jener Robert Habeck dem Bundesumweltminister Peter Altmaier (CDU) an, in Brunsbüttel radioaktiven Abfall zu lagern.

Die Grünen, so scheint es, machen gerade ihre zweite große Wandlung durch. 1999 sagten sie Jein zu einem Militäreinsatz im Kosovo – und waren damit ihren Ruf als Friedenspartei und viele Mitglieder los. Nun sind sie wieder an einem Scheideweg angekommen. Und wieder ist es die Regierungsbeteiligung, die ihnen eine Entscheidung abverlangt. 1999 waren die Grünen Partner der SPD im Bund, heute sind sie in Schleswig-Holstein Partner von SPD und SSW. Und sollen nun die Atommüllprobleme des ganzen Landes lösen. Castoren nach Brunsbüttel? „Das ist das Gegenteil von dem, wofür man gekämpft hat“, sagt Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Torsten Albig (SPD) mit einem einfühlsamen Blick in die Seele des Koalitionspartners.

Brunsbüttel, Brokdorf, Gorleben: Das sind mythische Orte grüner Sozialisation. Die Riesendemos in Brokdorf, die Bauplatzbesetzung Mitte der 70er, „Atomkraft Nein Danke“-Aufkleber auf jedem zweiten Auto im Landkreis Lüchow-Dannenberg, das Gorlebener Hüttendorf und die Freie Republik Wendland, der Treckertreck aus den entlegensten Zipfeln Niedersachsens in die Landeshauptstadt, dort die Demonstration mit 100.000 Menschen – diese Erinnerungen gehören zu den Gründungslegenden der Grünen.

„‚Gorleben soll leben‘ – das ist ein Gründungsspruch unserer Partei“, sagt Robert Habeck deshalb am Dienstagabend in Neumünster. Mit einem Sonderparteitag wollen die Grünen dort klären, ob sie Gorleben wirklich von weiteren Atommülltransporten freihalten wollen. Sie hätten damit ein Ziel erreicht, für das sie jahrzehntelang gekämpft haben. Aber sie müssen einen Preis zahlen. Die Castor-Behälter, die nicht mehr nach Gorleben gehen, müssen anderswo untergebracht werden.

Etwa in Brunsbüttel? Habeck hält sich mit dieser Frage nicht lange auf. Ihm geht es um Größeres. „Wir übernehmen Verantwortung für das Ganze, weil es uns um das Ganze geht“, sagt er mit angestrengter Stimme. „Fragt euch, was die Konzerne wollen. Die wollen am liebsten, dass alles ins Wendland geht. Worüber wir heute diskutieren, ist 100 Prozent das Gegenteil von Castor-Lieferungen ins Wendland.“ Und dann wird er pathetisch: „Heute wird dieser Landesverband Geschichte schreiben – so oder so.“

Die Brunsbütteler Grünen, die Grünen in den Kreisen Dithmarschen und Steinburg finden das nicht gut. Es sind nicht allzu viele von ihnen in die Neumünsteraner Jugendherberge gekommen, vielleicht 15 oder 20. Einige fühlen noch grün, sind aber schon vor Jahren ausgetreten. Karsten Hinrichsen zum Beispiel, der in einer Brokdorfer Bürgerinitiative gegen Atomkraft kämpft. Und dafür, dass Brokdorf abgeschaltet wird. „Ich verlange, dass in das Bundestagswahlprogramm der Grünen aufgenommen wird, dass alle AKW bis 2017 abgeschaltet werden“, sagt der Mann, der seit dem Kosovo-Krieg nicht mehr Mitglied ist. „Das ist das Mindeste, mit dem ich heute nach Hause gehen möchte.“ Er geht mit leeren Händen nach Hause. Auch die Änderungsanträge, die andere Habeck-Kritiker gestellt hatten, werden abgeschmettert. „Die habt ihr ja gut eingenordet“, ruft jemand, als er die vielen Hände mit den gelben Zetteln sieht, die gegen eine Zustimmung sprechen. Von Telefonaten ist die Rede, mit denen die etwa 30 Parteitagsdelegierten auf die Habeck-Linie gebracht worden sein sollen. Sollte der Streit ums Atom die Grünen spalten?

Als es zu heftig wird, geht Bernd Voß an Mikrofon, Landtagsabgeordneter und Mitbegründer der Grünen im Kreis Steinburg, dem Kreis, in dem Brokdorf liegt und Tag für Tag Atommüll produziert. „Wir dürfen uns hier nicht zerlegen. Es ist richtig, dass sich Schleswig-Holstein bei der Zwischenlagerung beteiligt“, sagt er. „Wir müssen mal das Pathos rausnehmen, hier weht kein Mantel der Geschichte. Niemand sollte unterstellen, dass wir nicht dieselben Ziele haben.“ Donnernder Beifall für den Mann, dem die Steinburger vertrauen – und der gerade Habeck in Schutz genommen hat.

Die Grünen haben mittlerweile Erfahrung mit scharfen politischen Schwenks und heißen programmatischen Schnitten. Der Atomausstieg ist so ein Beispiel. Die rot-grüne Bundesregierung hatte im Jahr 2000 mit der Energiewirtschaft einen sanften Abschied von Kernkraftwerken ausgehandelt. Bald darauf ging der damalige Umweltminister Jürgen Trittin (Grüne) auf Distanz zum Widerstand im Wendland. Unter den neuen Rahmenbedingungen gehe es um „gute Castoren“, kein Grüner solle sich künftig noch an den Protesten gegen die Castor-Transporte beteiligen, forderte er.

Das sah die Basis in Niedersachsen zum großen Teil anders, aber tatsächlich nahm der Widerstand zahlenmäßig ab. Es waren keine leichten Zeiten für Grüne im Landkreis Lüchow-Dannenberg. Erst der Ausstieg aus dem Atomausstieg durch die nachfolgende schwarz-gelbe Bundesregierung sorgte im Wendland wieder für klare Verhältnisse und eine Frontbegradigung: Jetzt standen die Grünen wieder in der ersten Reihe der Atomkraftgegner.

Zwei Themen haben die Partei groß gemacht: der Kampf als Teil der Friedensbewegung gegen die Nato-Nachrüstung und die genauso strikte Ablehnung der Kernenergie. Der Farbbeutelwurf auf den damaligen Bundesaußenminister Joschka Fischer im Mai 1999 auf einem Parteitag in Bielefeld, wo man über die Position zum Militäreinsatz im Kosovo debattierte, wurde zum Synonym für die Kehrtwende der Grünen hin zu einer pragmatischen Politik.

Und am Mittwoch hat Jürgen Trittin in seiner Eigenschaft als Chef der grünen Bundestagsfraktion ausdrücklich den Gesetzentwurf begrüßt, mit dessen Verabschiedung die schwarz-gelbe Bundesregierung am selben Tag die neue Suche nach einem Endlager für hochradioaktiven Müll angeschoben hat – und damit die Suche nach einem Zwischenlager, die möglicherweise in Brunsbüttel enden wird.

Dieser Pragmatismus hat die Grünen wachsen lassen – unaufhaltsam. Bei der schleswig-holsteinischen Landtagswahl im Mai 2012 hat die Partei mit 13,2 Prozent das beste Ergebnis ihrer Geschichte erzielt, im September könnte das auch bei der Bundestagswahl gelingen. Karl-Martin Hentschel, lange Fraktionsvorsitzender der Grünen in Schleswig-Holstein und gerade 63 Jahre alt geworden, widerspricht vehement, wenn man den Pragmatismus und die Wandlungsfähigkeit seiner Partei rühmen will. „Die Gesellschaft kommt auf uns zu“, sagt er. „Die anderen merken, dass wir die richtigen Ideen haben.“ Es sei „natürlich“ richtig, Atommüll aufzunehmen, sagt Hentschel, der sich als Fundi bezeichnet. „Das werde ich immer sein. Mit faulen Kompromissen möchte ich mich nicht zufriedengeben.“

Eka von Kalben, die jetzt die Fraktion in Kiel leitet, drückt es etwas anders aus. „Wir ducken uns nicht weg“, sagt sie – und es klingt ein bisschen, als richte gerade ein Wasserwerfer seinen kräftigen Strahl auf die 48-Jährige.