Zurück aus dem Urlaub kann die Kanzlerin wichtige Entscheidungen nicht weiter hinausschieben. Interne Kritiker zweifeln an einem Wahlsieg 2013.

Hamburg/Berlin. "Sie will nur Ruhe und Frieden." Das sagt einer über Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), der es wissen muss. Außer ihrem Mann Joachim Sauer und den Personenschützern kam ihr keiner in den vergangenen Wochen so nah: Reinhold Messner, Extrembergsteiger, Umweltschützer, Schlossbesitzer und erklärter Merkel-Fan. Die Kanzlerin wanderte mit ihm, lauschte in Südtirol einem seiner faszinierenden Vorträge und hatte doch selbst im Urlaub den Berg voller Probleme vor Augen, der sich im letzten Jahr vor der Bundestagswahl aufbaut.

Ihre Koalitionspartner aus FDP und CSU gerieten in Wallung. Anlässe: Euro-Rettung, Energiewende, Rente und, und, und. Zum ersten Arbeitstag schlurfte Merkel - "abgeschossen" von unerbetenen Fotografen - missmutig ins Kanzleramt. In den USA, Frankreich, Italien winken die Regierungschefs bei vergleichbaren Anlässen. Und punktgenau zur ersten Kabinettssitzung unter ihrer Leitung erklärte der Hamburger Jurist und Wirtschaftsexperte Josef Schlarmann gestern, er habe "erhebliche Zweifel", dass die Union mit Merkel an der Spitze noch genügend Stimmen bei Wahlen holen könne.

Schlarmann ist Vorsitzender der Mittelstandsvereinigung. Hinter ihm versammeln sich die internen Kritiker, die für ein öffentliches Wort der Kritik nicht den Mumm aufbringen. "Es gibt keinerlei grundsätzliche Debatte mehr, weil alles in Frau Merkels CDU als alternativlos angeboten wird", sagte Schlarmann der "Leipziger Volkszeitung". "Die Macht in der CDU von heute konzentriert sich auf das Kanzleramt. Alle Minister sind von der Kanzlerin unmittelbar abhängig." Diese Konstellation war bei Merkel-Vorvorgänger Helmut Kohl nicht viel anders. In Merkels Regierung brennt es jedoch bei den großen Themen und im Klein-Klein:

Euro-Rettung: Das Bundesverfassungsgericht entscheidet am 12. September über den permanenten Rettungsschirm ESM. Merkels Koalitionspartner CSU, allen voran Bayerns Finanzminister Markus Söder, will an Griechenland "ein Exempel statuieren". Für Vizekanzler Philipp Rösler (FDP) hat der Austritt der Griechen aus dem Euro "den Schrecken verloren". Und für den Fiskalpakt braucht Merkel die Zustimmung der SPD. Rösler forderte von der CSU - und damit von der Moderatorin Merkel: Die schrillen Töne müssten aufhören. Bei "Spiegel Online" sagte er über Söder und CSU-General Alexander Dobrindt: "Wir können es uns nicht leisten, dass die beiden den Ruf unseres Landes aufs Spiel setzen." Rösler selbst hatte jedoch im Februar in Hamburg bereits von einem "schwarzen Loch" Griechenland gesprochen. Auf die Zusagen aus Athen könne man sich nicht verlassen. Und die Euro-Skeptiker unter den Liberalen nehmen auch kein Blatt vor den Mund.

Energiewende: Der neue Umweltminister Peter Altmaier (CDU) hat Norbert Röttgen ("Muttis Bester") abgelöst, den Merkel nach der Wahlschlappe in NRW nicht einfach gehen ließ, sondern hinauswarf. Der Streit um den Netzausbau, die Förderung von Ökoenergien und die Strompreise bleibt. Bei der Energiewende müssen Subventionen begrenzt werden, von denen Bürger unmittelbar profitiert haben. Das betrifft die Solaranlagen, aber auch die Gebäudesanierung. Die energieintensiven Unternehmen werden zu mehr Effizienz verpflichtet, aber nicht so, wie sich Umweltschützer das vorgestellt haben. Merkels Ruf als "Klimakanzlerin" scheint endgültig dahin.

Rente: Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) ist vor der FDP eingeknickt und hat die Beitragssenkung losgelöst von der geplanten Zuschussrente für Bedürftige. Die Liberalen - ehemals: die Steuersenker - können diese Entlastung nun als ihr Verdienst verkaufen. Kanzlerin Merkel schwankt offenbar, ob sie von der Leyens Plan gegen Altersarmut mitträgt oder nur eine abgespeckte Variante. Gewerkschaften, Unternehmer und FDP sind kritisch gegenüber der Mindestrente von 850 Euro. Die Finanzierung ist außerdem unklar. Und die Angleichung der Renten in Ost und West fällt vorerst aus.

+++ Schlarmann: "In CDU geht es zu wie am Zarenhof" +++

Gesundheit: In einem weiteren Entlastungsschritt will die FDP die Praxisgebühr von zehn Euro pro Quartal für die Patienten abschaffen. Denn die Krankenkassen haben zuletzt Milliardenüberschüsse erwirtschaftet. Die CDU ist noch skeptisch, weil die Ausgaben für Gesundheit in Zukunft wieder deutlich steigen. Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) hat derweil ein Sterbehilfegesetz vorgelegt, das heftig umstritten ist. Sie will gewerbsmäßige Sterbehilfe unter Strafe stellen, aber nahestehende Personen davon ausnehmen, wenn sie Gelegenheiten zum Selbstmord gewähren. Teile der CDU sind empört über das Menschenbild, das hinter dem Gesetzentwurf steckt. Ärzte und Patientenvertreter lehnen ihn ohnehin ab.

Frauenquote: Die Ministerinnen Ursula von der Leyen (Arbeit) und Kristina Schröder (Familie) streiten um die Gestaltung der Quote. Schröder will die Unternehmen an den eigenen Vorgaben messen, von der Leyen eine Frauenquote, die verbindlich gilt. Die FDP verschmäht jede Quote für die Topetagen von Unternehmen. Schröder hat wegen der Blockade der Liberalen bereits resigniert und will nun die Quotenpläne ins nächste Wahlprogramm der Union schreiben.

Homo-Ehe: Neben der FDP wollen 13 Unionsabgeordnete noch in diesem Herbst über die Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnern beim Steuersplitting reden. Das bereitet ein Feld, das in Merkels Welt bislang nicht existierte. Doch die wilden 13 haben viele Unterstützer und wollen das zuletzt erworbene moderne Profil der CDU weiter schärfen.

Vorratsdatenspeicherung: Hier liegen wieder Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) und Innenminister Hans-Peter Friedrich über Kreuz. Die EU hat eine Neuordnung der deutschen Regeln zur Telefon- und Internetüberwachung gefordert und will ein Zwangsgeld gegen Deutschland verhängen lassen: 315 000 Euro pro Tag, an dem eine Neuregelung auf sich warten lässt. Auch das Bundesverfassungsgericht hat eine Reform angemahnt.

Wahlrecht: Aus Karlsruhe kam auch einer der dicksten Brocken für Schwarz-Gelb: Die bereits geänderten Spielregeln für Überhangmandate sind grundgesetzwidrig. Damit hätte - falls die Liaison zwischen Union und FDP noch vor dem Herbst 2013 reißt - eine Bundestagswahl keine rechtliche Grundlage. Für die nächste Reform will Merkel auf die Sozialdemokraten zugehen - kein leichter Gang für eine beim SPD-Spitzenpersonal unbeliebte Kanzlerin.

Koalition: Die eigene Partei bereitet Merkel den größten Kummer. Kritiker Schlarmann hält ihr vor, dass nur noch der Karriere mache, der auf Merkels Linie liege. In Bayern, wo Horst Seehofer ("Crazy Horst") wöchentlich mit neuen Ideen auffällt, schwindet die Unterstützung für Schwarz-Gelb. Betreuungsgeld und Pkw-Maut sind die Dauerbrenner des internen Streits. Unter den CDU-Ministerpräsidenten winken fast alle bei Ambitionen auf die Bundespolitik ab - ob Volker Bouffier (Hessen) oder David McAllister (Niedersachsen). Und der letzte Aufsteiger aus dem einst stark christdemokratisch geprägten Südwesten muss sogar eine Gefängnisstrafe fürchten. Ex-Ministerpräsident Stefan Mappus droht in der Affäre um den Rückkauf der EnBW-Landesanteile eine Anklage wegen Untreue.

Merkel reiste gestern nach der Kabinettssitzung zum Staatsbesuch nach Kanada. Am Sonntag öffnet sie das Kanzleramt für den Tag der offenen Tür. Ein Programmpunkt direkt an den Schalthebeln der Macht: Es gibt eine Lesung für Kinder. Das Buch heißt: "Wo die wilden Kerle wohnen".