Oliver Schirg, Chef von abendblatt.de: Die Gesellschaft geht heute völlig anders mit Privatheit um.

Die Diskussion darüber, ob Googles Fotodienst Street View die Grenzen des Erlaubten überschreitet oder es nicht tut, ist eine Scheindebatte - angezettelt von Politikern, die von dem Mangel an Lösungen für die wirklich wichtigen Probleme des Landes ablenken wollen.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich halte die inzwischen ungesunde wirtschaftliche Macht Googles für bedenklich. Sinnvolle wie ausgewogene Kontrolle tut not. Aber Street View - die Veröffentlichung von Fotos von Häusern im Internet - ist das falsche Thema für die Lösung dieses Problems.

Warum also bin ich dafür, dass Google mit seinem Projekt starten darf.

Erstens: Google Street View ist keine qualitativ neue Erfindung, sondern lediglich eine Ausweitung seit Jahren gelebter Praxis. Millionen Deutsche nutzen Tag für Tag Google Earth und Google Maps. Diese Programme basieren auf Satellitenaufnahmen und ermöglichen es dem Nutzer, ziemlich genau auf jeden Ort in Deutschland zu zoomen und sich so zu orientieren. Sorgen, beispielsweise Diebe könnten Street View zur Planung von Raubzügen nutzen, scheinen mir daher übertrieben. Google Street View benötigen sie dazu nicht.

Zweitens: Es gibt bereits mehrere andere Unternehmen, die in Deutschland Straßen und Häuser fotografieren und ähnliche Dienste im Internet anbieten. Die Tatsache, dass diese nicht so verbreitet wie Google sind, berührt den Kern der aktuellen Debatte nicht.

Drittens: Die genaue Lokalisierung eines Menschen ist seit vielen Jahren ohne große Probleme mithilfe von privaten Telefonauskunftsdiensten möglich. Ein Anruf bei einem der Anbieter oder das Wälzen älterer Telefonbücher fördert neben diversen Telefonnummern in vielen Fällen die Adresse des Nummerninhabers zutage. Street View hingegen zeigt lediglich eine Straße oder ein Haus, nicht aber das Klingelschild.

Viertens: Google ist bereit, Bedürfnisse nach Persönlichkeitsschutz zu berücksichtigen. Wie in anderen Ländern auch, werden Gesichter und Nummernschilder auf den Bildern unkenntlich gemacht. Zudem können Mieter und Eigentümer beantragen, dass ihr Haus ausgeblendet wird.

Das sagt Karl Günther Barth, Mitglied der Chefredaktion, zum Thema Google Street View: Contra: "Verhöhnt und abkassiert"

Fünftens: In der Öffentlichkeit wird Google Street View offenbar viel weniger als Gefahr betrachtet als Politiker uns Glauben machen wollen.

Einer jüngst erhobenen repräsentativen Emnid-Umfrage zufolge sehen 39 Prozent der Deutschen eher Nachteile eines derartigen Bilderdienstes. Aber für immerhin 41 Prozent der Befragten überwiegen die Vorteile des Internetangebots. Lediglich 16 Prozent der Deutschen - also nicht mal jeder fünfte Bürger - wollen den GoogleDienst verpflichten, ihr Haus oder ihre Wohnung unkenntlich zu machen.

Sechstens: Die rasant wachsende Nutzung sozialer Netzwerke wie Facebook, Xing oder StudiVZ lässt einen tief greifenden Wandel der Gesellschaft im Umgang mit Privatheit erkennen. Man muss das nicht mögen: Aber Millionen - zugegeben vornehmlich junge - Menschen in Deutschland posten alltäglich weitaus privatere Informationen im Netz und gewähren so der Allgemeinheit freiwillig Zutritt in ihre vier Wände.

Siebtens: Viele der Politiker, die jetzt das Hohelied der informationellen Selbstbestimmung anstimmen, haben kein Problem damit, dass zu jeder Tages- und Nachtzeit in ganz Deutschland Tausende von Kameras Straßen, Plätze oder U-Bahnabteile im Sinne der Kriminalitätsbekämpfung überwachen - ohne dass die dort anwesenden Menschen unkenntlich gemacht werden.

Achtens: Sicher, nicht alles, was möglich ist, muss man auch umsetzen. Aber mir scheint, die aktuelle Debatte um Street View ist einmal mehr Ausdruck von Hilflosigkeit im Umgang mit dem Internet. Natürlich lauern dort Gefahren - wie im richtigen Leben auch. Mir aber sind die Chancen wichtiger.