Die Spitzenkandidatin der Grünen sagt: “Man muss jede Chance, die es gibt, nutzen.“ Von der SPD erwartet sie eine klare Orientierung. Sie habe “ihren roten Faden nicht gefunden“.

Hamburg. Hamburger Abendblatt: Frau Künast, die Grünen haben bei der Europawahl ihr bundesweit bestes Ergebnis erzielt und auch bei den Kommunalwahlen große Erfolge gehabt. Haben Sie das erwartet?

Renate Künast: Nicht erwartet, aber erhofft und erkämpft. Ich bin überzeugt, dass wir auf allen Ebenen einfach richtig gute Politik gemacht haben. Wir haben uns neu ausgerichtet, Umwelt und Wirtschaft miteinander verbunden und uns insbesondere in den Kommunen um neue Arbeitsplätze und um gute Bildungs- und Kinderpolitik gekümmert.

Abendblatt: Ihr Wunschkoalitionspartner SPD schwächelt hingegen. Nach den Umfragen reicht es nicht für Rot-Grün. Wie wollen Sie nach der Bundestagswahl im September wieder an die Regierung kommen?

Künast: Wir haben einen grünen Faden, und dem folgen wir. Wir haben Vorstellungen wie wir eine Million neue Jobs in diesem Land in den kommenden vier Jahren schaffen wollen. Das geht mit gezielten Investitionen in Bildung und Klimaschutz, mit ehrgeizigen Regeln, zum Beispiel bei der Energieeinsparung, und Anreizprogrammen. Erste Grünen-Pflicht ist es, davon die Menschen zu überzeugen und noch mehr Stimmen zu bekommen. Das SPD-Problem muss die SPD selber lösen.

Abendblatt: Die SPD versammelt sich am Wochenende zu ihrem Parteitag. Welches Signal erwarten Sie?

Künast: Eine klare Zukunftsorientierung. Sie muss sich der Umstrukturierung in der Gesellschaft stellen. Von der SPD, aber auch von der Union erwarte ich, dass sie aufhören, auf dem Rücken derer Wahlkampf zu machen, die jetzt Sorgen um ihre Arbeitsplätze haben. Der öffentliche Minister-Streit um Arcandor und die Zukunft der Karstadt-Warenhäuser ist völlig unangemessen. Statt überlegte Strategien auszuarbeiten, wird ein großes Wahlkampfgetöse veranstaltet. Da erwarte ich ein Machtwort der Bundeskanzlerin.

Abendblatt: Welches Problem hat die SPD?

Künast: Dafür müsste ich eine Coaching-Gebühr bekommen, wenn ich das verrate. Ich kann nur für beide Regierungsparteien sagen: Diese Große Koalition bedeutet Stillstand. Sie haben es trotz ihrer großen Mehrheit beide miteinander nicht geschafft, mehr Demokratie und Zukunftsorientierung zu vermitteln.

Abendblatt: Den größeren Schaden scheint aber die SPD davonzutragen. Liegt das nur daran, dass die Union die Kanzlerin stellt, oder welche Fehler hat die SPD noch gemacht?

Künast: Wir Grüne profitieren von frustrierten SPD-Wählern genauso gern wie von frustrierten wertegeleiteten Konservativen. Die SPD hat ihren roten Faden nicht gefunden. Die CDU hat zwar ihren schwarzen Faden, aber den verknüpft sie ständig mit mal ein bisschen Rot und Gelb. Das ähnelt eher größeren Makramee-Knüpfarbeiten. Doch wo sind eigentlich die Antworten auf die Finanz-, Wirtschafts- und Klima-Krise, die miteinander verbunden sind? Die geben beide großen Volksparteien nicht. Dort geht keiner mutig los und sagt, Ökonomie und Ökologie denken wir zusammen, weil beide Bereiche voneinander profitieren können. Aber nur wenn wir beides zusammen anpacken, sichern wir Deutschland eine Vorreiterrolle in Europa und sichern damit Jobs.

Abendblatt: Wenn man die Ergebnisse der Europawahl bundesweit sieht, dann hätte Schwarz-Grün eine Mehrheit von gut 50 Prozent gehabt. In Hamburg regiert eine schwarz-grüne Koalition. Wie lange können sich die Grünen einer Koalition mit der CDU auf Bundesebene noch verschließen?

Künast: Das Wort verschließen passt nicht auf unsere Situation. Das Fell des Bären wird erst verteilt, wenn er erlegt ist. Ob er erlegt ist, stellen wir erst am Wahlabend des 27. September fest. Die größten Schnittmengen gibt es mit der SPD. Aber mein Interesse ist es, möglichst viele Möglichkeiten für die Grünen zu haben. Man muss jede Chance, die es gibt, nutzen. Wichtig ist, dass eine ökologisch-soziale Politik möglich ist. Sonst wird ohnehin kein Parteitag der Grünen einem Koalitionsvertrag zustimmen.

Abendblatt: Eine Jamaika-Koalition mit CDU/CSU und FDP haben die Grünen auf ihrem Parteitag abgelehnt, eine Ampel-Koalition mit SPD und FDP hingegen nicht. Was ist denn an Jamaika so abschreckend?

Künast: Wir können uns ausrechnen, dass wir mit CSU und FDP als zwei in Wahrheit neoliberale Parteien und der CDU, von der man nicht weiß, was sie ist, keine ökologisch-soziale und keine Bürgerrechtspolitik schaffen können.

Abendblatt: Die Krise wird diesmal das bestimmende Thema im Wahlkampf sein. Wie viel Gestaltungsspielraum bleibt den Parteien überhaupt?

Künast: Ich mache mir große Sorgen, dass diese Bundesregierung Milliarden Euro ohne Gegenwert ausgibt und nur Schulden übrig lässt. Sie sehen mich dem Tag entgegenfiebern, an dem gewählt wird. Wenn die Grünen eine Million neue Jobs schaffen wollen, bedeutet das ehrlicherweise auch, dass Schulden gemacht werden müssen. Das sind 20 Milliarden Euro im Jahr. Aber das Ergebnis ist dann eine Umstrukturierung und Neuausrichtung. Das ist die Zukunftsrendite.

Abendblatt: Heute ist die Schuldenbremse in die Verfassung übernommen worden. Halten Sie das für ein wirksames Mittel?

Künast: Eigentlich ist es eine Peinlichkeit, dass wir überhaupt eine Schuldenbremse einrichten müssen, weil wir so schlecht gewirtschaftet haben. Wer heute geboren ist, muss schon 19 900 Euro Staatschulden schultern. Dennoch ist die Schuldenbremse ein richtiges Mittel. Wir Grüne hätten sie allerdings anders gestaltet. Man hätte etwa mitregeln müssen, dass Bildungsausgaben als Investitionen begriffen werden, die geleistet werden dürfen. Sonst stehen wir irgendwann vor dem Problem, dass wegen der Schuldenbremse keine Lehrerinnen und Lehrer mehr eingestellt werden dürfen.

Abendblatt: Hat die Rechtslage nicht bisher ausgereicht?

Künast: Rechtlich ist die Schuldenbremse nötig, um Zwang auszuüben.

Abendblatt: Die Auflösung des US-Gefangenenlagers Guantánamo ist immer eine zentrale Forderung der Grünen gewesen. Jetzt übernimmt der Inselstaat Palau die neun Uiguren, die die US-Regierung nach Deutschland schicken wollte. Kann sich Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble weiteren Anfragen der US-Regierung noch entziehen?

Künast: Ich schäme mich für diese Bundesregierung. Gerade in dieser Zeit, wo US-Präsident Barack Obama zum Jahrestag der Invasion der alliierten Truppen in der Normandie war und uns daran erinnert, dass sich während der Nazi-Zeit andere für uns und unsere Menschenrechte aufgeopfert haben. Es ist eine bodenlose Unverschämheit von Schäuble zu erklären, die USA solle ihr Problem selbst lösen. Auch Kanzlerin Angela Merkel ist bei diesem Thema wieder abgetaucht. Wer ernsthaft an Menschenrechten interessiert ist, empfängt nicht nur den Dalai Lama, sondern hilft jetzt, Guantánamo aufzulösen.

Abendblatt: Wie groß schätzen Sie die Gefahr ein, die von diesen Terrorverdächtigen ausgeht?

Künast: Das muss im Einzelfall geprüft werden. Aber die Tatsache, dass jemand in einem Terrorlager war, heißt nicht zwingend, dass von ihm immer noch eine Gefahr ausgeht. Diese Debatte läuft jetzt seit einem Jahr, aber die Bundesregierung hat immer noch keine Entscheidung getroffen. Stattdessen nimmt jetzt Palau die Uiguren auf. Das ist ein Armutszeugnis für die Bundesrepublik.