Hat sich die Bundesregierung zu viel vorgenommen? Auch der Umweltminister gibt zu: Manches Ziel wird nur schwierig zu erreichen sein.

Berlin. Deutschland hat sich offenbar zu ambitionierte Ziele für die Energiewende gesetzt. Bundesumweltminister Peter Altmaier meldete erstmals Zweifel an, ob alle Vorhaben realisierbar seien. "Es stellt sich die Frage, ob es wirklich gelingt, den Stromverbrauch bis zum Jahre 2020 um 10 Prozent zu senken“, sagte der CDU-Politiker der "Bild am Sonntag“. "Wenn wir das noch irgendwie schaffen wollen, dann bedarf das riesiger Anstrengungen.“ Angesichts der Probleme forderte die SPD, die Zuständigkeit für die Energiewende an einer Stelle zu bündeln. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) verlangte Abstriche bei der Förderung von Ökostrom.

Aus Altmaiers Sicht steht auch ein weiteres Ziel auf der Kippe: "Wir werden möglicherweise deutlich weniger Elektroautos haben als bislang angenommen.“ Die Bundesregierung will erreichen, dass bis zum Jahr 2020 auf Deutschlands Straßen eine Million Elektro-Autos rollen, bis 2030 sollen es sechs Millionen sein. Anfang des Jahres gab es in Deutschland nach Angaben des Kraftfahrt-Bundesamtes aber erst 4541 Elektroautos.

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Der Bundesumweltminister räumte auch ein: "Nicht jedem war der Koordinierungsbedarf bei der Energiewende klar. (...) Da sind Fehler gemacht worden. Diese Fehler müssen wir jetzt korrigieren.“ Zu den Dingen, die falsch gelaufen sind, gehört laut Altmaier auch, dass man die Frage der Bezahlbarkeit von Energie aus den Augen verloren habe. "Für mich hat höchste Priorität, dass Strom bezahlbar bleibt.“

Auch bei den internationalen Klimaschutzzielen kommen Altmaier Zweifel. Er sieht das Ziel, die Erderwärmung auf zwei Grad zu begrenzen, in Gefahr. "Das Zwei-Grad-Ziel war von Anfang an ein sehr ehrgeiziges Ziel, das nur erreicht werden kann, wenn alles gemäß Drehbuch verläuft“, sagte er in Berlin. Es habe aber sehr viele Rückschläge gegeben. Geprüft werden soll daher, ob bisherige Maßnahmen reichen, um das Zwei-Grad-Ziel überhaupt noch zu schaffen.

Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel sagte dazu, Altmaier sei immerhin ehrlicher als sein Vorgänger Norbert Röttgen (CDU): "Er gesteht ein, dass die schwarz-gelbe Bundesregierung bei der Energiewende bislang komplett versagt hat.“ Es gebe nur noch eine Lösung: "Die Bundesregierung muss Verantwortung abgeben, weil sich die Ministerien gegenseitig blockieren und das System selbst wohl nicht mehr verstehen.“ Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sollte eine "Energiewende-Agentur“ schaffen. Darin sollten Industrie, Wirtschaft, Verbraucherverbände, Länder, Stadtwerke und Energieunternehmen sitzen. "Diese Agentur muss der Politik dann Vorschläge machen, an welcher Stelle Entscheidungen getroffen werden müssen.“ Bislang teilen sich Wirtschafts- und Umweltministerium die Kompetenz für Energiefragen.

Bremens Regierungschef Jens Böhrnsen (SPD) verlangte, ein eigenes Bundesministerium für Energie zu schaffen. "Eine Möglichkeit, die Zuständigkeiten für die Energiewende in der Bundesregierung zu bündeln, wäre ein eigenständiger Energieminister“, sagte er der "Neuen Osnabrücker Zeitung“ (Sonnabend). "Wir brauchen jemanden, der das in Schwung bringt.“ Die Länder bräuchten zudem endlich einen festen Ansprechpartner. "Dass die Kanzlerin die Energiewende rein sprachlich zur Chefsache erklärt hat, reicht nicht“, sagte Böhrnsen.

Industriepräsident Hans-Peter Keitel plädierte dafür, einen Teil der Privilegien für Ökostrom zurückzunehmen. "Wenn wir den Einspeisevorrang für die erneuerbaren Energien für die letzten zehn Prozent kappen würden, könnten wir die Notwendigkeit des Leitungsbaus um fast die Hälfte reduzieren“, sagte der BDI-Präsident der "Rheinischen Post“ (Sonnabend). "Das würde der Industrie Luft verschaffen, die Neubauten auch technisch umzusetzen.“ Keitel warnte die Politik bei der Energiewende davor, "blind in eine Krise“ zu rennen. Politiker müssten auch ehrlich sagen, dass die Strompreise steigen werden.

Nach einem "Spiegel“-Bericht drängen die Regierungschefs der fünf norddeutschen Länder auf ein Spitzengespräch wegen der Probleme bei der Anbindung von Windparks auf See an das Stromnetz. Bremens Regierungschef Böhrnsen habe in einem Brief an Kanzlerin Merkel darauf hingewiesen, dass sie schon im Mai ein solches Treffen vereinbart habe. Seitdem habe seine Senatskanzlei das Kanzleramt mehrfach erfolglos gebeten, kurzfristig einzuladen. Inzwischen vertrage die Sache "keinen weiteren Aufschub“ mehr. (abendblatt.de/dpa)