Ministerpräsident Kretschmann will Bau des Bahnhofs “konstruktiv-kritisch“ begleiten. CDU und FDP fordern Rücktritt des Verkehrsministers

Stuttgart. Bis kurz vor dem Volksentscheid hatte sich im grünen Teil der Landesregierung noch ein Fünkchen Hoffnung geregt, auf dass im Ländle wieder einmal ein "Wunder" geschehe, wie Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) den Sieg der Gegner von Stuttgart 21 (S21) samt erreichtem Quorum nannte. Denn die Nachfrage nach Briefwahlbögen war ungewöhnlich hoch gewesen. Viele dachten also, es kündige sich eine immens gute Wahlbeteiligung an und damit eine größere Chance, nicht nur die Mehrheit für den Ausstieg aus dem Projekt zu schaffen, sondern auch das strenge Quorum von einem Drittel aller Wahlbeteiligten.

Doch schon eine halbe Stunde nach Schließung der Wahllokale war am Sonntagabend der Traum zerplatzt. Die Ergebnisse in den ersten ausgezählten Wahlbezirken waren niederschmetternd. Sogar in Stuttgart selbst lief von Anfang an alles auf eine Niederlage der Aussteiger hinaus. Als dann bekannt wurde, dass eine bisher offenkundig schweigende Bürgermehrheit von knapp 58 Prozent rund 42 Prozent Gegner und Wutbürger übertrumpft hatte, kam die schadenfrohe Reaktion umgehend: Höhnisch skandierte der CDU- und FDP-Block im Stuttgarter Landtag bei der Wahlparty "Hermann weg" - lautstark hinein in eine Live-Fernsehsendung des Südwestrundfunks. Der grüne Verkehrsminister Winfried Hermann müsse zurücktreten, forderte der Chef der FDP-Landtagsfraktion, Hans-Ulrich Rülke, sogleich.

Es wirkt tatsächlich wie die sprichwörtliche Ironie der Geschichte: Winfried Hermann, bis zur Berufung als Minister verkehrspolitischer Sprecher der grünen Bundestagsfraktion, gehörte immer zu den erbittertsten Gegnern von Stuttgart 21. Seit eineinhalb Jahrzehnten kämpft er gegen den Umbau des Bahnhofs zu einer Durchgangsstation. Und ausgerechnet er muss nun das verhasste Projekt umsetzen.

Dass er das tatsächlich tun will, daran ließ Hermann dann zur Überraschung vieler keine Zweifel. Selbst in den eigenen Reihen hatten viele Beobachter damit gerechnet, dass Hermann das Ergebnis irgendwie dorthin interpretieren würde, wohin er es gerne hätte. Tatsächlich entdeckte der Grünen-Politiker auch eine Art Mini-Sieg im Volksentscheid: Die Grünen hätten allein gegen CDU, SPD und FDP gestanden und dennoch fast 42 Prozent geholt, das sei doch prima. Trotzdem bekannte sich Hermann gestern zum Auftrag des Volkes. Geknickt gestand er nur ein, die Zahl der Befürworter unterschätzt zu haben. An einen Rücktritt denke er aber nicht. "Was kann einem Land Besseres passieren als einer, der alle Schwächen des Projekts kennt und aufpasst, dass die Interessen des Landes wahrgenommen werden?", warb Hermann für sich.

Ähnlich sieht das Winfried Kretschmann. Nach einer Sondersitzung des grün-roten Kabinetts lobte der Ministerpräsident seinen Verkehrsminister mit warmen Worten für dessen konsequente Haltung und starke Persönlichkeit: "Ich wüsste nicht, warum er zurücktreten soll. Er hat einen harten Job gehabt, bisher den härtesten in der Regierung." Davon abgesehen sei es ohnehin irrwitzig, wenn jeder Politiker gleich zurücktreten müsse, der bei einem Volksentscheid in einer Sachfrage unterliege. Dann hätte die Schweizer Regierung schon zig-mal das Handtuch werfen müssen.

Auch Kretschmann hatte sich zu diesem Zeitpunkt längst mit den Verhältnissen arrangiert. Er gab eine neue Devise aus, die da lautet: umschalten. Die grün-rote Landesregierung will nicht länger bremsen und blockieren, sondern Gräben zuschütten, Brücken bauen und den Tiefbahnhofsbau tatsächlich begleiten. "An Wunder kann man glauben, aber man kann sie nicht bestellen", gab er sich als guter Verlierer. Allerdings soll der Blick ein durchaus argwöhnischer bleiben: "Wir werden umschalten von ablehnend-kritisch auf konstruktiv-kritisch." Die Regierung wird also der Bahn das Baurecht zwar sichern, weil es die Verträge und das Volk nun mal so verlangen. Zugleich wird dem Bauherrn aber genau auf die Finger geschaut, vor allem damit der vereinbarte Kostenrahmen nicht gesprengt wird. An möglichen Mehrkosten werde sich das Land mit keinem Cent beteiligen, sagte Kretschmann. Vereinbart ist eine Höchstgrenze von 4,5 Milliarden Euro, 930 Millionen davon kommen vom Land.

Die Bahn verweist aber auf die sogenannte Sprechklausel im Vertrag zu Stuttgart 21. Danach müssen sich die Projektpartner im Falle, dass die Kosten aus dem Ruder laufen, noch einmal zusammensetzen und besprechen, wer wie viel davon finanziert. Die Bahn ist der Meinung, dass das Land dann sehr wohl in der Pflicht stehe, die Börse zu öffnen. Bahn-Chef Rüdiger Grube hatte vor der Volksabstimmung strikt verweigert zu erklären, dass die Bahn alle Mehrkosten selbst zahlen werde.

Genugtuung und Spott für die Unterlegenen gab es bei der CDU im Bundestag: Unionsfraktionschef Volker Kauder höhnte, die Volksabstimmung habe den Unterschied zwischen "angeblichen gefühlten Mehrheiten und tatsächlichen Mehrheiten" gezeigt. Dennoch ist nicht gesagt, dass die 2,1 Millionen Befürworter alle vom Nutzen des Projekts überzeugt sind. Nach einer SWR-Umfrage hielten die Gegner den Tiefbahnhof für zu teuer, und der Großteil der Befürworter machte wegen der hohen Ausstiegskosten sein Kreuz.

Das glaubt auch Brigitte Dahlbender, die als Konsequenz aus dem Volksentscheid als Sprecherin des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21 zurücktrat. Die "Horrorzahl" 1,5 Milliarden Euro, die die Bahn als Ausstiegskosten nannte, habe viele verschreckt. Die Gegner wollen das Bahnprojekt weiter kritisch begleiten, doch in welcher Form, ist unklar. Ob es weiter Montagsdemos geben wird, wird erst am 4. Dezember entschieden. Der Stuttgarter Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider glaubt aber, dass die Demonstranten nun an Unterstützung verlieren werden. 95 Prozent der Befragten hätten bei einer Umfrage angegeben, das Ergebnis akzeptieren zu wollen. "Eine moralische Überhöhung wie ,Wir sind das Volk' gibt viel Kraft. Aber jetzt fehlt diese Basis." Eine schweigende Mehrheit von 2,1 Millionen Menschen, die für S21 gestimmt hätten, habe sich durchgesetzt.