Der Volkentscheid für Stuttgart 21 kann für die Demokratie heilsam sein.

Der Volksentscheid über das Großprojekt Stuttgart 21 könnte zu einer Lehrstunde der Demokratie in Deutschland werden. Das Urteil fiel deutlicher aus als erwartet. Fast 60 Prozent stimmten für den Plan, den Stuttgarter Bahnhof in die Erde zu verlegen; fast jeder zweite Bürger beteiligte sich im Ländle am Referendum. Die Gegner, die 2,54 Millionen Stimmen gegen das bei ihnen verhasste Großprojekt benötigt hätten, bekamen lediglich 1,5 Millionen Stimmen. Entsprechend laut fiel das Triumphgeheul der Bahnhofsbefürworter aus. Der BDI lobte die Abstimmung gleich als wichtiges "Signal für moderne Infrastruktur", die CSU will deshalb auch den Widerstand gegen eine dritte Startbahn in München beendet sehen.

Damit deutet man das Votum im Südwesten etwas zu weitgehend. Und doch: Deutschland, das zeigt dieser Sonntag, ist keine tumbe Dagegen-Republik - selbst Großprojekte finden noch Mehrheiten. Der "Wutbürger", der sich im Stuttgarter Schlossgarten so laut und vehement meldete, kann zwar mobilisieren - die Mehrheit aber stellt er nicht.

Wichtiger noch: Der Entscheid könnte einige Verzerrungen in der politischen Debatte gerade rücken. Denn es stellt ein Grundgebot unserer Verfassung wieder her, das zuletzt an Gültigkeit einzubüßen schien: Die gleiche Wahl - die Stimme jedes Einzelnen zählt gleich viel. Bei Stuttgart 21, aber auch bei anderen Debatten, schlichen sich hierüber zuletzt Zweifel ein. In einer demoskopiegetriebenen Demokratie, in der Politiker immer stärker stimmungsgeleitet entscheiden, ist Lautstärke oft wichtiger, als es Argumente sind, die sogenannte Kampagnenfähigkeit entscheidender als Gutachten, schlagen kurzfristige Emotionen langfristige Abschätzungen.

Die steigende Anzahl von Volks- und Bürgerentscheiden hat dieses Problem zusätzlich befeuert. Meist bekommen jene die Aufmerksamkeit, die besonders laut sind - wie zu Beginn der Proteste gegen Stuttgart 21. Oder es setzen sich Interessengruppen durch, die besonders gut mobilisieren können - wie betroffene Anwohner in den zahlreichen Hamburger Bürgerbegehren gegen neue Wohnprojekte in der Nachbarschaft. Oder es obsiegen jene, die Wortgewalt, Geld und Organisationsstärke in eigene Vorteile ummünzen. Hier muss man an die Hamburger Schuldebatte erinnern, die ein massives Problem direkter Demokratie offenlegte: Die Wahlbeteiligung beim Referendum zur Primarschule war in Nienstedten mit rund 60 Prozent fast fünfmal so hoch wie in Billstedt. Die grün-schwarze Bildungsreform scheiterte am außerparlamentarischen Widerstand engagierter Konservativer.

Das könnte eine interessante Lehre für die größten Befürworter von Volksabstimmungen sein - denn wieder einmal pfeifen die Bürger die Grünen zurück. Direkte Demokratie, einst als Machtmittel der vermeintlich Machtlosen gegen die Macht der Herrschenden propagiert, wendet sich einmal mehr ausgerechnet gegen ihre größten Fürsprecher. Was in Hamburg begann, setzt sich in Baden-Württemberg fort. Mittelfristig könnte das die Lust an der direkten Demokratie bei den Grünen durchaus schmälern.

Schon die Reaktion der Stuttgart-21-Gegner ist ein deutliches Zeichen. Man wolle weiter protestieren und mit allen legalen Mitteln gegen das Projekt kämpfen, verkündeten die Parkschützer noch am Sonntagabend. Auch das ist eine Lehrstunde in Sache Demokratie - wie man es nicht machen sollte. In dieser unerträglichen Besserwisserei und Selbstüberschätzung offenbart sich ein beträchtliches Demokratiedefizit. Wie man es richtig macht, zeigte hingegen der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann, ein überzeugter Gegner der Bahnpläne. Er sagte gestern zur Entscheidung der Mehrheit: "Die nehmen wir an - ohne Hintertürchen und doppelten Boden."

Schlimm genug, dass man diese Selbstverständlichkeit loben muss.