Präsident des Verfassungsgerichtes spricht auf Festakt zum Tag der Einheit und fordert stärkere Beteiligung von Bürgern und Parlamenten.

Berlin. Am 21. Jahrestag der Wiedervereinigung feiern die Festredner Europa. Ohne ein solidarisches Europa, so der Tenor ihrer Reden anlässlich der Feierstunde im früheren Plenarsaal der Bonner Republik, wäre die deutsche Einheit nicht möglich gewesen. Jetzt müsse Deutschland sich in der Schulden- und Finanzkrise mit seinen europäischen Nachbarn solidarisch zeigen.

Das Orchester spielt den "Ungarischen Tanz" von Johannes Brahms, eine sichtlich entspannte Bundeskanzlerin Angela Merkel wippt im Takt, und Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle gibt gemeinsam mit Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft die politische Melodie dieses Tages vor. Der Applaus der Ehrengäste ist ihnen sicher. Angeführt werden sie von Bundespräsident Christian Wulff und Ehefrau Bettina sowie Bundestagspräsident Norbert Lammert. Auch Altbundespräsident Richard von Weizsäcker und Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher sind gekommen.

Voßkuhle spricht über die gemeinsamen Ideale und Ziele der Deutschen. Sie wollten "ein Land der Freiheit, des Rechts und der Brüderlichkeit in einer starken Europäischen Union". Dazu gehörten auch Verfassungspatriotismus, die Orientierung an der politischen Mitte und die Chance für alle Bürger, am Wohlstand der Gesellschaft teilzuhaben. Eindringlich warnt er vor einer Entsolidarisierung in Europa. Noch sei die Europäische Union eine beispiellose Erfolgsgeschichte, die auf der historischen Einsicht gründe, dass Frieden, Freiheit und Wohlstand auf dem Kontinent dauerhaft nur durch einen engen Verbund gewährleistet werden könnten.

Zugleich fordert er eine stärkere Beteiligung von Bürgern und Parlamenten an der Gestaltung Europas. Es sei falsch und sogar gefährlich, in den Sorgen der Menschen angesichts der Finanzkrise einen antieuropäischen Affekt zu sehen. Die europäischen Institutionen dürften sich gegenüber der Kritik ihrer Bürger nicht immunisieren. Wohin Europa gehe, dürfe nicht in elitären Zirkeln entschieden werden. Darüber müsse vielmehr offen und ernsthaft gestritten werden, in den Parlamenten der Mitgliedstaaten, im Europäischen Parlament und in der Öffentlichkeit. "Ohne eine lebendige Demokratie wird Europa nicht weiterwachsen", sagt Voßkuhle.

+++Tag der Deutschen Einheit auch Tag der Erinnerung in Bonn++

"Europa lässt sich nicht auf ein einfaches Rechenspiel reduzieren. Man kann hier nicht am Abend eines Tages auf die Kasse drücken und schauen, was habe ich gegeben und was habe ich herausbekommen. Europa ist keine Momentaufnahme", sagt Voßkuhle. Europa gründe sich auf der historischen Einsicht, dass Frieden, Freiheit und Wohlstand auf dem Kontinent dauerhaft nur durch einen engen Verbund gewährleistet werden können. "Das gilt in guten wie in schlechten Zeiten", betonte Voßkuhle.

Doch nicht nur in Europa, auch in Deutschland sieht er die Solidarität in Gefahr. Anzeichen, wonach das Versprechen der Brüderlichkeit seine Bindekraft verliere, müssten alarmieren. Voßkuhle spricht vom "Postulat der Mitte": Alle Bürger sollten die Chance haben, am Wohlstand der Gesellschaft teilzuhaben. Es sei das historische Verdienst der Ostdeutschen, die eigene Freiheit errungen zu haben. Mit der Wiedervereinigung seien zwei offene Wunden der Deutschen geschlossen worden, nämlich das Leben eines Drittels der Deutschen in Unfreiheit und dass die Bürger der Bundesrepublik ihre Freiheit nicht selbst erkämpft hätten. Die Bürger der ehemaligen DDR hätten damit eine "Leerstelle" in der deutschen Geschichte gefüllt. Ihnen stehe das "alleinige Verdienst zu, uns Deutschen das einzigartige und berauschende Gefühl selbst erkämpfter Freiheit geschenkt zu haben. Dafür gebührt Ihnen ewiger Dank".

Die zweite Festrednerin, Hannelore Kraft, würdigt den 3. Oktober als Tag von großer nationaler und europäischer Bedeutung. "Denn ohne Solidarität Europas wäre damals die deutsche Einheit nicht möglich gewesen", sagt die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin. "Und ohne vereintes Deutschland wäre auch der europäische Einigungsprozess der letzten beiden Jahrzehnte nicht möglich gewesen." Weil dies so sei, warnt sie eindringlich vor dem "historischen Fehler" eines deutschen Alleingangs oder Rückzugs aus Europa. "Die Antwort auf die aktuelle Krise ist nicht weniger, sondern mehr Europa", sagt Kraft. Dieses Europa müsse aber "für Gerechtigkeit, sozialen Ausgleich und faire Chancen" stehen. Es wäre ein historischer Fehler, der Versuchung nachzugeben, die Probleme Europas ließen sich durch Rückzug in eine vermeintliche nationale Idylle lösen. "Es gibt diese Idylle schlicht nicht, die vorgegaukelte Wärme der guten alten Zeit, in der nationale Alleingänge möglich schienen", sagt Kraft. In einer globalisierten Welt ließen sich die deutschen Interessen "gar nicht wirksamer vertreten als im Schulterschluss mit unseren europäischen Freunden".

Erst später, am Rande der Festveranstaltung, sagt auch Bundeskanzlerin Merkel ein paar Worte zur Einheit in einem solidarischen Europa. Noch immer gebe es Unterschiede in den Lebenswirklichkeiten zwischen den alten und neuen Bundesländern, die überwunden werden müssten, sagt sie. "Wir sind weit vorangekommen, aber wir haben es noch nicht ganz geschafft." Dabei nennt Merkel den demografischen Wandel und die Abwanderung junger Leute aus dem Osten, die fast doppelt so hohe Arbeitslosigkeit wie im Westen und die geringeren Sparguthaben.

Auf das Demografieproblem machte auch Innenminister Friedrich aufmerksam. Viele Arbeitnehmer seien zu Beginn der 90er-Jahre arbeitslos geworden und hätten keine richtige Arbeit mehr gefunden. "Dieses Problem wird das der tatsächlichen oder gefühlten Ungerechtigkeiten zwischen den heutigen Rentnern in Ost und West überholen", prognostizierte Friedrich in der "Sächsischen Zeitung".

Die Links-Fraktion im Bundestag bezeichnete die Einheit als unvollendet. Noch immer müssten Beschäftigte im Osten bei gleicher Leistung für weniger Lohn länger arbeiten. Das sei politisches Programm. Prekäre Beschäftigung, Niedriglohnsektor, Altersarmut, das alles sei im Osten probiert worden, um es im Westen einzuführen. Die Linke warnte davor, dies auf europäischer Ebene zu wiederholen. Auch die Gewerkschaften wiesen auf das Lohngefälle zwischen Ost und West hin. DGB-Vorstandsmitglied Claus Matecki warf den Arbeitgebern vor, sich der Angleichung systematisch entzogen oder massiven Widerstand geleistet zu haben.

Der Kölner Erzbischof, Joachim Kardinal Meisner, hatte beim Gottesdienst in der Kreuzkirche an die deutsche Teilung, an das Unrecht in der DDR und an die "brutalen atheistischen Methoden" des SED-Regimes erinnert. Leider seien auch heute in den Köpfen und Herzen mancher Menschen die Schlagbäume und Mauern noch nicht ganz verschwunden. Ganz ähnlich äußerte sich der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Präses Nikolaus Schneider.

Insgesamt drei Tage lang stand Bonn im Mittelpunkt der historischen Feierlichkeiten, zu denen rund 700 000 Gäste kamen. Mit dem Tag der Deutschen Einheit wurde zugleich der 65. Geburtstag des Landes Nordrhein-Westfalen gefeiert.