Unser Autor war ein Kind, als Ost-Berlin die Grenzen dichtmachte. Das Nicht-raus-Können war im Denken jedes DDR-Bürgers immer präsent.

Die Mauer war für mich meistens unsichtbar, aber immer gegenwärtig. Obwohl sie inzwischen fast spurlos verschwunden ist, bestimmt sie mein Leben bis heute. Wenn ich reise, meinen Pass vorzeige und damit eine Grenze passiere, wird das für mich nie selbstverständlich sein, sondern stets mit einem beglückenden Gefühl verbunden bleiben. Ich genieße es immer wieder, das tun zu können, was früher verboten, unmöglich oder lebensgefährlich war.

Meine früheste Erinnerung an die Mauer kann ich genau datieren, es ist überhaupt meine allererste Kindheitserinnerung: Am 13. August 1961 sehe ich als Vierjähriger zum ersten Mal Fernsehbilder. Aus einem großen Kasten dringt merkwürdiges, ungegenständliches, bläulich-graues Flimmern. Unsere Pastorenfamilie aus Dresden, zu Verwandtenbesuch in Bayern, ist an diesem denkwürdigen Abend bei einem befreundeten Architektenehepaar in München eingeladen, das einen Fernseher besitzt; was damals noch längst keine Selbstverständlichkeit ist. Aufgeregte Erwachsene sprechen beängstigend laut. Der sonst so beherrschte Vater brüllt etwas von einer Mauer, von Kommunisten und Hornochsen. Es geht um hüben und drüben, um Hierbleiben oder Zurückkehren, um Frei- oder Eingesperrtsein. Müssen wir ins Gefängnis, fragt der Vierjährige, der nichts versteht. Die Mutter beruhigt ihn, und doch spürt er, dass gerade etwas passiert ist. Etwas Folgenreiches.

Ein Pastor lässt seine Gemeinde niemals im Stich. Nicht eine Sekunde hat der Vater damals daran gedacht, im Westen zu bleiben. Am 20. August 1961 kehrt die Familie in den Osten zurück. Als wir am späten Abend im Dresdner Pfarrhaus eintreffen, leuchten bunte Lampions an der Gartenpforte. Meine älteren Geschwister und die Großeltern begrüßen uns, als seien wir von einer gefahrvollen Reise zurückgekehrt.

Im Sommer 1964 bin ich enttäuscht, als ich die Mauer zum ersten Mal sehe. Grau sieht sie aus und bei Weitem nicht so hoch, wie ich gedacht habe. Vor allem ist sie weit weg, ich kann nicht herantreten. Ich stehe am Berliner Ost-Bahnhof und blicke gespannt hinüber zur Spree. Nicht mal in Ruhe betrachten lässt man mich das Bauwerk, das offiziell "Antifaschistischer Schutzwall" genannt wird, wie ich ein paar Monate später als Erstklässler in der Polytechnischen Oberschule erfahre. "Lass uns weitergehen", sagt die Mutter ungewohnt barsch.

Kurz vor zehn Uhr warten wir im "Tränenpalast", dem Grenzübergangsgebäude an der Friedrichstraße, auf meine Patentante Erna aus Westfalen. Westdeutsche dürfen Grenzen überschreiten, auch die Berliner Mauer. Die Mutter ist aufgeregt, hat rote Flecken im Gesicht und schwitzt. Dann endlich öffnet sich eine Tür, aus der die Patentante tritt. Für mich hat sie einen Ball mitgebracht, kein Matchbox-Auto, wie ich gehofft hatte. An Bällen litten wir im Sozialismus niemals Mangel.

Wir fahren auf dem Müggelsee mit einem Dampfer der Weißen Flotte, trinken am Nachmittag im Lindencorso gegenüber der Staatsoper Kaffee und bringen Tante Erna am Abend zurück zum Tränenpalast, wo sie durch die kleine Tür tritt, die in den Westen führt. Die Mauer hat Türen, aber nur Westdeutsche dürfen sie benutzen. Wir fahren zum Stephanus-Stift in Berlin-Weißensee, einer Sozialeinrichtung der evangelischen Kirche, wo wir für drei Tage ein Gästezimmer gebucht haben. Am nächsten Tag warten wir wieder um zehn Uhr im Tränenplast. Aber es sind immer Unbekannte, die aus der kleinen Tür treten. Die Patentante verspätet sich, sie erscheint nicht um zehn, auch nicht um elf.

Die Zeit wird lang, die Mutter hat noch mehr rote Flecken im Gesicht. Sie sagt nichts, doch sie fürchtet, dass Tante Erna etwas passiert ist. Die Mauer ist gefährlich, sogar für Westdeutsche. Wir haben keine Nachricht von der Tante. Aber wer sollte uns auch benachrichtigen? Die Volkspolizei ist gefährlich und schweigt. Undenkbar, einen Polizisten anzusprechen und nach Erna Waltemath aus Herford zu fragen. "Die staatlichen Organe sind nicht befugt, Ihnen irgendwelche Auskünfte über BRD-Bürger zu erteilen", würde er wohl antworten.

Gegen zwölf bekommt die Mutter keine Luft mehr, rutscht von der Holzbank und schlägt mit dem Hinterkopf auf den gekachelten Fußboden. Ein Volkspolizist stürzt herbei, bald ist ein Arzt zur Stelle, der ihr eine Spritze gibt. Ein Krankenwagen bringt uns schließlich zu unserem Quartier in Weißensee. Einige Stunden später hat die Mutter den Asthmaanfall überwunden, aber die roten Flecken im Gesicht und die Angst sind geblieben. Stundenlang spazieren wir über den Jüdischen Friedhof in Weißensee. Als ich nach der Mauer frage, antwortet die Mutter nur einsilbig.

Am nächsten Morgen warten wir wieder im Tränenpalast. Diesmal tritt Tante Erna kurz nach zehn durch die kleine Tür. Sie strahlt, nimmt erst mich, dann die Mutter in den Arm. Warum sie tags zuvor nicht gekommen ist? "Ich hätte es seelisch nicht verkraftet. Die Grenze, die Uniformen, die Vopos", sagt die Tante. Die Mutter wird ihr nichts von ihrer Angst und dem Asthmaanfall erzählen.

Zu Hause in Dresden fällt es schwer, sich die Mauer vorzustellen. Trotzdem ist sie immer da, geheimnisvoll, unheimlich, unverrückbar. Aber offenbar nicht unüberwindlich. Von Zeit zu Zeit nämlich verschwinden Menschen, Bekannte und Unbekannte. Sie sind "abgehauen", sagt man über sie. Offiziell heißt das Republikflucht. Ich stelle mir vor, wie Republikflüchtlinge über die Mauer springen, mit Anlauf, so wie ich im Sportunterricht über den Kasten springe. Nur dass die Mauer viel höher ist und von Soldaten scharf bewacht wird.

Auf dem Weißen Hirsch, unserem Dresdner Wohnviertel, sind einzelne Wohnungen, Häuser, Villen manchmal plötzlich verwaist. Die Lützners sind abgehauen, sagen Nachbarn hinter vorgehaltener Hand. Niemand weiß, wie die Lützners das geschafft haben. Ich kenne die Familie, habe mit den Kindern gespielt und weiß nun, dass ich sie nie wiedersehen werde. Ihr Haus an der Plattleite, einer vornehmen Straße, steht lange leer. In den folgenden Jahrzehnten wird es verfallen.

Auch in der Schule bleibt von Zeit zu Zeit ein Platz leer, weil wieder mal eine Familie "die DDR verraten" hat, wie die Staatsbürgerkundelehrerin voller Verachtung sagt. Mit meinen Schulfreunden fachsimple ich über Fluchtmethoden, über die manchmal sogar Details zu erfahren sind. Im Deutschlandfunk, den wir jeden Abend knisternd und knarzend auf Mittelwelle empfangen, wird ausführlich über abenteuerliche Fluchtversuche berichtet. Ich liebe diese Geschichten. Und der Vater predigt eines Sonntags über Psalm 18 Vers 30: "Mit Gott kann ich über Mauern springen."

Das Brandenburger Tor ist geschlossen. Es ist überhaupt kein Tor mehr, denn die Mauer versperrt den Weg. Sie sei gebaut worden, um zu verhindern, dass die Bundeswehr mit "klingendem Spiel" durchs Tor marschiert und die Arbeiter- und Bauernmacht zerstört. Das sagt die Staatsbürgerkundelehrerin, obwohl das die wenigsten meiner Mitschüler glauben. Nur die, deren Eltern "politisch" sind, vor denen man auf der Hut sein muss.

"Erstens ist die Bundeswehr gar nicht in West-Berlin", meint der Vater am Abendbrottisch grinsend, "und zweitens würde eine Militärkapelle wohl kaum die Arbeiter- und Bauernmacht zerstören können." Er könne sich aber gut vorstellen, wie die Menschen der Bundeswehr zujubeln würden, wenn sie denn eine Militärkapelle durchs Brandenburger Tor schicken würde. Nur leider sei das Unsinn, Propaganda, wie alles, was die Staatsbürgerkundelehrerin von sich gibt.

Als Jugendlicher fahre ich häufig nach Berlin, um Freunde zu besuchen. Ost-Berlin ist anders als der Rest der DDR. Hier prallen die Welten aufeinander: Man sieht die schwarzen russischen Tschaika-Limousinen der Politbüro-Bonzen und die cremefarbenen Cadillacs, mit denen amerikanische Soldaten durch den Osten kurven. Als ich von der Aussichtsplattform des Fernsehturms gen Westen blicke, stehen zwei französische Soldaten neben mir. Der Klassenfeind geht hier ein und aus. Einmal sehe ich, wie ein GI einen Volksarmisten mit der Hand an der Mütze grüßt und der sich erst vorsichtig umblickt, bevor er den Gruß erwidert.

Bei jedem Berlin-Besuch gehe ich die Linden entlang bis zum Pariser Platz. Vor mir Blumenkübel, ein niedriger Zaun sperrt den weiten Platz ab, auf dem sich nah und doch fern das Brandenburger Tor erhebt. Hier kann ich die Mauer in Ruhe betrachten. Sehe die Soldaten der DDR-Grenztruppen patrouillieren. Erkenne drüben im Westen die Aussichtsplattform, auf die Menschen steigen, um herüber in den Osten zu sehen. Ein Blick, zwei Perspektiven, zwei Welten und dazwischen die Mauer. Die Absperrung vor mir ist niedrig. Was würde passieren, wenn ich jetzt einfach drüberspringe und loslaufe? Ich würde gar nicht bis zur Mauer kommen. Man würde nicht auf mich schießen, hier nicht. Nicht vor der Aussichtsplattform, auf der Westberliner, Westdeutsche, Amerikaner und Franzosen stehen und den Kommunismus fotografieren. Aber die Soldaten wären sofort zur Stelle, würden mich aufhalten, festhalten, abführen.

Der Westen ist so nah, ich erkenne fast die Gesichter der Menschen, die vielleicht 300 Meter entfernt auf der Plattform stehen. Wahrscheinlich halten sie mich auch für einen Kommunisten. Für mich sind sie so weit entfernt wie Spaziergänger in Paris, in London und New York oder wie der Mond. Kann ich das akzeptieren? Werde ich es hinnehmen, dass mir dieser Staat erst am Tag nach meinem 65. Geburtstag, am 1. März 2022, gestatteten will, durch die kleine Tür im "Tränenpalast" zu treten, um hinter die Mauer zu gelangen? Muss ich wirklich warten, bis ich als Rentner nicht mehr arbeite und dem Staat nicht mehr nützlich bin?

Immer wieder stehe ich in den 1980er-Jahren vor dem Brandenburger Tor, denke an die Predigt meines längst verstorbenen Vaters, an Psalm 18, Vers 30 und weiß genau, dass ich mich mit dieser Mauer niemals abfinden kann.

Und dann geht auf einmal alles ganz schnell. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich am Abend des 9. Oktober 1989, als ich mit Zigtausenden Leipzigern um den Innenstadtring laufe, an die Mauer gedacht habe. Damals steht sowieso alles auf dem Spiel, denn es geht um die Macht. Die oder wir. Jeder weiß, wenn die SED fällt, fällt auch die Mauer. Deshalb ist für mich auch der 9. November 1989, als die Mauer dann tatsächlich geöffnet wird, nur die zwangsläufige Folge dessen, was schon einen Monat zuvor geschah: Am 16. Oktober schreien die Leipziger noch "Visafrei in die Tschechoslowakei!", eine Woche später entdecke ich ein Plakat mit der Aufschrift "Visafrei bis nach Hawaii!". Wir sind maßlos geworden, der Freiheits-Virus hat um sich gegriffen. Dass die Mauer fällt, ist nur noch eine Frage der Zeit.

Am 5. Januar 1990, damals lebe ich schon in der Nähe von Hamburg, bin ich zum ersten Mal nach der Friedlichen Revolution in Berlin. Wie so oft gehe ich die Linden entlang bis zum Pariser Platz. Die Blumenkübel und Absperrungen sind weggeräumt. Ich bleibe dort stehen, wo für mich die Welt so lange zu Ende war. Und während ich dann Schritt für Schritt diesen bis vor wenigen Monaten streng verbotenen, lebensgefährlichen Weg durchs Brandenburger Tor gehe, fühle ich mich ganz leicht, als ginge ich auf Watte.

Die kleine Tür im Tränenpalast ist längst überflüssig, denn jetzt gibt es überall Türen und Tore. Eines davon ist gleich rechts hinter dem Brandenburger Tor. "Viel Spaß im Westen", sagt in breitem Sächsisch der Grenzpolizist, dem ich mit einem Gefühl unglaublicher Genugtuung noch meinen alten DDR-Personalausweis zum Abstempeln hinhalte. Den habe ich behalten wie meine Erinnerungen an die Mauer, die einst fast unüberwindlich war und heute vom Erdboden verschwunden ist, als hätte es sie niemals gegeben.