Tören ist eigentlich FDP-Abgeordneter im Bundestag. Aber sein Mandat im Stadtrat von Stade bedeutet ihm viel. Bald könnte seine Karriere enden.

Berlin. Sein politisches Leben dreht sich in diesen Wochen allein um den Stadtrat von Stade. Serkan Tören will jetzt bloß keine Ratssitzung verpassen. Er will dort sein, wo er gebraucht wird. In Stade geht es um die Zukunft des Hafens, um dessen Hinterlandanbindung, um die Frage, ob die Stadt ein Kohlekraftwerk braucht. Er sagt: "Für mich sind kommunalpolitische Themen wichtig."

Serkan Tören ist eigentlich FDP-Bundestagsabgeordneter. Aber sein Mandat im Stadtrat von Stade bedeutet ihm viel. Bei den niedersächsischen Kommunalwahlen im September tritt er wieder für den Stadtrat und auch für den Kreistag an, "beide Male auf Listenplatz eins", wie er betont. Er wolle die lokalen Themen in den Bundestag transportieren und den Kontakt zur Basis beibehalten, begründet er seinen Kampf um die kommunalen Ämter. In zwei Jahren könnten sie das Einzige sein, was er noch hat.

Ein Rückblick: Es ist der Freitagmorgen vor zwei Wochen, der letzte Tag im Parlament vor der Sommerpause. Tören sitzt im Abgeordnetenrestaurant des Bundestags. Der Bundestagsabgeordnete sieht erschöpft aus, er spricht leise, fast so, als ob ihn bloß niemand von den Nachbartischen verstehen soll. Was er zu sagen hat, könnten manche unerhört finden. Die eigene Koalition schlechtzureden gehört sich nicht. Aber in diesen schwarz-gelben Zeiten gelten andere Regeln. Es läuft nicht gut im Geschäft des Regierens, und Tören hat kein Problem damit, seinen Frust zu zeigen. Er, ein Mann von der FDP, hat sowieso nichts mehr zu verlieren.

"Nach jetzigem Stand würde ich nicht mehr in den Bundestag einziehen", stellt er fest. Bleibt die FDP eine Fünf-Prozent-Partei, hat er keine Chance. 2009 kam Tören über die Landesliste ins Parlament. Der niedersächsische Verband hatte ihn auf Platz acht aufgestellt, keine sichere Nummer. Das Sensationsergebnis von 14,6 Prozent spülte ihn doch noch in den Bundestag. An das Gefühl zu Beginn seines Bundestagslebens kann er sich gut erinnern. Schließlich ist es mit seinem jetzigen Gefühl nicht zu vergleichen. "Ich habe Schwarz-Gelb in Niedersachsen ganz anders erlebt. Ich dachte, auch im Bund sei das eine Wunschkoalition. Aber hier werden Interna nach außen getragen. Es herrscht ein anderer Stil. Das habe ich mir so nicht vorgestellt."

Damals, im euphorischen Herbst 2009, fiel Tören unter den Dutzenden Neulingen in der Fraktion sofort auf. Er war der erste türkischstämmige Bundestagsabgeordnete, den die Liberalen je hatten. Er wollte integrationspolitischer Sprecher werden, und natürlich bekam er den Job. Alles fing so gut an. Mit 36 Jahren konnte der Jurist zum ersten Mal hauptamtlich Politik machen, sich zu den ganz großen Themen äußern, zu den Thesen von Thilo Sarrazin etwa. Als Türke und Moslem kritisierte er die Auftritte des türkischen Premiers Erdogan in Deutschland. Was für ein Unterschied zu seinem alten Politikerleben. Im Stadtrat von Stade darf er sich immerhin stellvertretender Fraktionsvorsitzender nennen. Kein Wunder bei nur einem zweiten Kollegen in der Fraktion - dem Vorsitzenden.

Jetzt sagt Tören, dass er in der Landesliste für die Bundestagswahl 2013 schon gern nach vorn rücken würde, nach so vielen harten Jahren der Vorarbeit für ein Bundestagsmandat. Seit seiner Jugend hat Tören, das Gastarbeiterkind, der Partei unbeirrt gedient. Gerade weil die FDP einen entspannteren Umgang mit Migranten habe als andere Parteien, sei sie seine politische Heimat geworden. Er würde schon gerne in zwei Jahren von sich behaupten, auch der erste türkischstämmige FDP-Bundestagsabgeordnete zu sein, dem der Wiedereinzug ins Parlament gelungen ist. Der Erste. Der Einzige. Tören, der im nordtürkischen Städtchen Fatsa geboren wurde und wenige Monate später mit seiner Familie nach Stade kam, kennt es nicht anders. "Ich war immer der einzige Migrant, wo immer ich auch war. Das zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben", erzählt er. "Für meinen Werdegang war das wichtig. Ich hatte stets nur deutsche Freunde."

Er merkt, dass sich das ziemlich streberhaft und nach einem furchtbar vorbildlichen Migrantenleben anhört - und schiebt eine Erklärung nach: Es lag am Fußball. Serkan war fünf, als ihn ein Junge aus der Nachbarschaft in der Nähe von Stade mitnahm zu einem kleinen Dorfverein namens MTV Hammah. Serkan wurde Fußballer. "Pünktlichkeit, Disziplin, Mannschaftsgeist, Teamfähigkeit, Ordnung", zählt er die Eigenschaften auf, die ihn der Sport lehrten. Heute spielt er in der Bundestagsmannschaft.

Auch die Einstellung seiner Eltern hätte eine Rolle gespielt, beide hart arbeitend, der Vater Fernmeldemonteur bei Siemens, die Mutter zuständig für die Obstabteilung in einem Supermarkt. Sie wollten, dass wenigstens er vernünftig Deutsch lernt.

Und nun, angekommen ganz oben in der Gesellschaft als einer der sehr wenigen Migranten im politischen Establishment - nun soll das alles bald wieder vorbei sein? "Ich sehe das locker", schießt es aus Tören heraus. "Okay, ich mache mir Gedanken, ob ich noch mal ins Parlament komme. Aber ich kann zur Not in meiner Kanzlei wieder loslegen. Ich glaube, andere in meiner Fraktion stehen 2013 wirklich vor dem Nichts." Tören ist Rechtsanwalt für Zivilrecht. Seine Kanzlei ist in Ottensen. Seit seinem Wechsel nach Berlin ist er zu selten hier gewesen, findet er. Priorität hatte bisher allein die Politik. Er sagt: "Der Wunsch, in den Bundestag zu gehen, war schon immer da. Er war nie dauerpräsent, aber im Hinterkopf."

Jetzt hat er andere Gedanken im Hinterkopf. "Die Umfragewerte bedrücken mich." Tören erzählt, wie er vor 18 Jahren in die Partei eintrat, um das in der Kohl-Regierung aufgezehrte Vertrauen in die Liberalen wieder zurückzuholen. Im Ortsverband habe er brav Plakate geklebt, "so richtig mit Kleister". Im Bundestagswahlkampf 1994 sei er dann als liberaler Wahlkämpfer beschimpft worden. "Das war eine ganz neue Erfahrung für mich." Dann kam Guido Westerwelle. Für ihn sei Westerwelle "ein Vertrauensfaktor" gewesen. Dass er sich heute getäuscht fühlt, sagt er lieber nicht.

Um Törens Tisch wird es unruhiger. Im Parlament hat die erste Debatte begonnen. Aber ihn zieht es nicht in den Plenarsaal. Jetzt spricht er noch leiser. Er werde mehr beobachtet als andere, sagt Tören. "Wie verhält er sich, was macht er da? Man spürt die Blicke", sagt er. Bei Migranten schaut man besonders hin. Gelegentlich werde er unterschätzt. "Ich muss oft mehr arbeiten als andere, um ernst genommen zu werden." Tören denkt da nicht nur an seine Herkunft. Er will als FDP-Mann auch von der Union ernst genommen werden. "Das Problem war die Grundkonstellation", holt er aus. "Die Union hatte schon vier Jahre regiert, wir waren hungrig und wollten die Dinge ändern."

Jetzt ist sein Blick klarer. Im Stadtrat von Stade kann er bisweilen mehr bewegen als im höchsten deutschen Parlament. Manches laufe da genauso ab wie im Bundestag. "Sich mit den anderen Parteien arrangieren zu müssen, das ist auf jeder Ebene gleich."

In Berlin hat die parlamentarische Sommerpause begonnen. Tören besucht Schützenfeste, zeigt sich bei Wahlkampfständen im Alten Land, bald will er mit Hausbesuchen anfangen. Die sitzungsfreie Zeit ist auch dazu da innezuhalten. Wie kann es mit den Liberalen weitergehen? Tören sieht die inhaltliche Öffnung als einzigen Ausweg. "Wir sollten mehr zu bieten haben als Wirtschaft und Finanzen. Um neue Wählerschichten anzusprechen, müssen wir emotionaler werden und auch die Herzen berühren."

Er pendelt in diesen Tagen wieder öfter von Stade nach Hamburg. In seiner Kanzlei muss er Akten abarbeiten. Wenn es 2013 vorbei sein sollte mit dem Leben im Bundestag, will er nicht tief fallen. Lieber will er sich schon mal daran gewöhnen, an das Leben danach. Als Hintergrundbild für sein iPad hat er ein Foto des Reichstagsgebäudes heruntergeladen. Das Bild zeigt den Besuchereingang. Von dieser Seite betreten die Abgeordneten eigentlich nie das Parlament. Aber Serkan Tören findet, dass der Reichstag aus dieser Perspektive besonders schön aussieht.