Morgen wird die Wehrpflicht ausgesetzt. Genug Freiwillige gibt es nicht. Besuch bei der Truppe, die nicht aufgibt und trotz allem für sich wirbt.

An der Straße von Ostland nach Westland steht Rekrut Jan van Weeren, 22, blinzelt mit müden Augen in die Morgensonne und träumt von seinem Bett. Sein Nebenmann, der Rekrut Christoph Allner, 21, ächzt unter den 13 Kilos, mit denen Splitterschutzweste, Gefechtshelm, Wasserflasche und Sturmgewehr auf ihm lasten. Auf seiner Haut hat sich ein dünner Schweißfilm gebildet. Allner sehnt sich nach einer Dusche.

Er und van Weeren bewachen einen Checkpoint, und ihr Auftrag ist es, Waffenschmuggler und Drogenhändler zu schnappen. In der Nacht erst gab es eine Schießerei, in ihrer Nähe sollen auch Minen gelegt worden sein. Mit Angriffen aus Ostland sei zu rechnen, hieß es im Briefing, auch die Westländer seien gefährlich. Irgendjemand hat deswegen dem Einsatzgebiet den treffenden Namen Kummerland gegeben.

Die beiden durchsuchen gerade einen jungen Mann mit blauem Kapuzenpulli. Die Luft ist frisch und würzig, Vögel zwitschern in den Bäumen. Plötzlich knattern in der Ferne Schüsse, dazwischen mischt sich das dumpfe Grollen von Geschützen. Die beiden Soldaten reagieren nicht. Sie wissen, dass die Schießerei in der Ferne nicht ihnen gilt. Ziel sind stattdessen Pappscheiben auf dem Truppenübungsplatz Munster in der Lüneburger Heide. Genau dort wird an diesem Morgen die 36-Stunden-Übung für van Weerens und Allners Einheit enden, einer der Höhepunkte der Grundausbildung der Bundeswehr. Dann rücken sie wieder in die Schulze-Lutz-Kaserne ein, die sie vor anderthalb Tagen verlassen haben.

Auf dem Platz zwischen ihren beiden Batteriegebäuden werden sie an der Fahne vorbeikommen, die auf halbmast hängt. AmVortag ist einer ihrer Kameraden in Afghanistan gefallen. Die Taliban sprengten das Panzerfahrzeug von der Straße, in dem er saß. Van Weeren wird beim Blick auf die Fahne mulmig zumute sein. Sein Kamerad Allner will die düsteren Gedanken nicht so an sich ranlassen, lieber erst mal aus dem schweren Kampfanzug raus. Am Wochenende will er dann zu seiner Freundin und zu seinen Eltern in die Nähe von Bitterfeld, länger als drei Stunden wird er dafür fahren müssen. Schwitzen, getrennt von der Familie und mit der Aussicht auf einen lebensgefährlichen Job - das sind die Perspektiven des Soldatenlebens.

"Die Bundeswehr ist attraktiv, sie muss es nur kommunizieren", glaubt Hauptmann Dastyn Krause. Krause redet ruhig und lächelt viel, aber wenn er an diesem Morgen mit den Soldaten an der Straßensperre spricht, hängt er kein "bitte" an. Als Chef der Ausbildungskompanie des Panzerartillerielehrbataillons 325 ist der Job des 28-Jährigen, aus noch jüngeren Leuten wie van Weeren und Allner Soldaten zu formen.

Zumindest mit seinem letzten Halbsatz hat Krause recht. Die Bundeswehr muss tatsächlich kommunizieren. Und das ist neu. Denn am 1. Juli endet eine Institution der bundesdeutschen Geschichte: 55 Jahre nach ihrer Einrichtung wird die Wehrpflicht ausgesetzt, die Bundeswehr wird zur Freiwilligen-Armee. Wer dann noch im Flecktarn in der Heide steht, hat das selbst so gewollt.

So wie Allner und van Weeren: Allner, von Haus aus Solartechniker, möchte Soldat auf Zeit werden. Van Weeren, gelernter Schreiner aus dem niedersächsischen Evendorf, ist dagegen gewissermaßen der Nachfolger des früheren Wehrpflichtigen - "FWDL" nennt die Bundeswehr Menschen wie van Weeren, Freiwillig-Wehrdienstleistende, die bis zu 23 Monate lang als einfache Soldaten dienen wollen. Van Weeren will es erst mal ein Jahr probieren. "Und dann mal weiterschauen", sagt er.

Doch ihr Dienstherr, Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière, hat ein Problem: Es gibt nicht genug van Weerens. Zum 3. Quartal, am 1. Juli, erwartet das Verteidigungsministerium etwa 2500 Freiwillige - genau ein Jahr zuvor traten noch 13 370 Wehrpflichtige ihren Grundwehrdienst an. Weil die Armee im Zuge der Wehrreform sowieso personell abspecken soll, sei diese Zahl unproblematisch, sagt ein Ministeriumssprecher. Im Gegenteil, bekräftigt er: "Wir sind auf einem guten Weg."

Doch sein eigener Minister scheint zu zweifeln. Bei einer Veranstaltung der Wochenzeitung "Die Zeit" Ende Mai räumt de Maizière ein: Ja, die Aussetzung der Wehrpflicht sei sehr kurzfristig entschieden worden. Die Bundeswehr sei nicht richtig vorbereitet gewesen. "Die Bewerberzahlen für den Freiwilligendienst sind ein Problem", sagte de Maizière. Das sieht der Wehrbeauftragte des Bundestags, Hellmut Königshaus, ähnlich. "Die Zahlen sind bisher bei Weitem nicht ausreichend", bestätigt der FDP-Politiker dem Abendblatt. "Im schlimmsten Fall wird die Bundeswehr nicht ausreichend Freiwillige gewinnen, um ihren Auftrag zu erfüllen."

Der Adressat der Kritik ist Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg. Unter massivem Spardruck hat der frühere CSU-Shootingstar das Koalitionsziel einer Wehrreform angepackt - und in Rekordzeit die Wehrpflicht zu Grabe getragen, weil es für die inzwischen keine sicherheitspolitische Rechtfertigung mehr gebe.

Andreas Brandes hört den Schießlärm vom Munsterer Übungsplatz selbst dann, wenn er die Fenster seines Büros schließt. Die Einzelschüsse, die wie aufklatschende Badelatschen klingen, und das rasende, stakkatohafte Plopploppplopp von Gewehrsalven sind schon seit Langem die Begleitmelodie seines Berufslebens. "Nach zehn Jahren in Munster gehört das zur Routine und wird nicht mehr wirklich wahrgenommen", sagt er. Brandes ist Oberstleutnant und arbeitet für den Bundeswehrverband, quasi die Gewerkschaft der Bundeswehr. Die Aussetzung der Wehrpflicht nennt er einen "Aderlass, der zum sicheren Ausbluten führt".

Dabei war zuletzt gerade mal jeder fünfte Soldat aufgrund eines Einberufungsbescheids bei der Truppe. Auch wenn sie nicht im Ausland eingesetzt werden durften, sorgten sie als Arbeitsbienen in Werkstätten, Lagern und Schreibstuben für ein reibungsloses Funktionieren der Armee in der Heimat. Nach ihrem Wehrdienst blieben manche und füllten die Reihen der Zeitsoldaten auf. Wenn nun das Fußvolk wegbleiben sollte, hat die Bundeswehr ein Problem. Viele Kameraden von Brandes liebäugeln daher mit der Wiedereinführung der Wehrpflicht - noch bevor sie ausgesetzt ist.

Wie es künftig in den Kasernen aussehen könnte, kann man in der Stube von van Weeren bereits erahnen: In dem penibel gereinigten Raum mit Stockbetten, Tisch und Spinden sind drei von acht Matratzen unbezogen. 69 Rekruten bildet Hauptmann Dastyn Krause in diesem Quartal aus - doch Platz und Ausbilder hätte er für fast doppelt so viele.

An einem schwülwarmen Frühsommertag arbeitet Jens Schuffenhauer in einem Klassenzimmer daran, dass die Stuben in den Munsterer Kasernen nicht zu Einzelzimmern werden. Schuffenhauer steht vor 23 Schülern und fünf Schülerinnen der Stadtteilschule Walddörfer in Volksdorf. Anlässlich der jährlichen Berufsorientierungstage hat die Schulleitung auch den 35-jährigen Wehrdienstberatungsoffizier eingeladen - neben anderen Behörden- und Wirtschaftsvertretern, wie eine besorgte Lehrerin mehrfach betont.

Draußen tanzen die Schüler des Abi-Jahrgang als Hippies verkleidet über den Hof, drinnen hat Schuffenhauer jetzt eine Stunde Zeit, um den Jugendlichen in sanftem Sächsisch zu erklären, warum es sich lohnt, fürs Vaterland Uniform zu tragen. Das Produkt, das Schuffenhauer bewirbt, klingt nicht allzu attraktiv: Es ist gefährlich (Schuffenhauer: "In Auslandseinsätzen können Sie sterben oder verwundet werden" ), familienunfreundlich ("Dass Sie nur im Raum Hamburg stationiert werden, ist unwahrscheinlich") und stellt Anforderungen an den Kunden ("Sie müssen fit sein und dürfen niemals Drogen genommen haben").

Einige der Schüler horchen erst auf, als Schuffenhauer vom Sold spricht. Bis zu 1150 Euro steuerfrei als FWDL, plus Auslandszulage. Es klingelt, die Schüler laufen aus der Klasse. Jeder Sechste der Zuhörer wird später mal eine Bewerbung schicken. Es ist ein mühsames Arbeiten: Rund 100 solcher Auftritte haben Schuffenhauer und seine Kameraden jedes Jahr. In ihrem Büro hängt ein Stadtplan, in dem Dutzende von Reißzwecken Hamburger Schulen markieren - ihr berufliches Einsatzgebiet, ihr ganz persönliches Kummerland.

Wer sich bei der Truppe bewirbt, landet in Hamburg im Kreiswehrersatzamt an der Sophienterrasse. In der Eingangshalle steht ein einsamer Klappreiter: "Wir stellen auch weiterhin in allen Laufbahnen ein", an der Glastür klebt ein Poster, das für ein Schnupperpraktikum bei der Truppe wirbt. Auf den Fluren des Amtes herrscht meditative Ruhe, doch Amtsleiter Jörg Listner, ein Mann mit kurz geschnittenem Bart und dröhnender Freundlichkeit, birst fast vor Tatkraft. Sicher, früher habe man 60 künftige Wehrdienstleistende pro Woche abgefertigt, heute erschienen vielleicht noch zehn FWDL, berichtet er. Künftig soll daher in den Amtsstuben ein neuer Geist wehen. "Marktgerecht und kundenorientiert" seien jetzt die neuen Maßstäbe, erklärt er stolz. Doch wofür genau Listner werben soll, kann er nicht sagen. Denn noch ist alles offen - wie viele Freiwillige eine geschrumpfte Bundeswehr überhaupt brauchen wird, wie die Besoldung sein wird, welche Aufstiegschancen es geben wird. Auch was aus seinem eigenen Ersatzamt werden wird, weiß Listner nicht. Denn nach dem Kaltstart Guttenbergs ist Nachfolger de Maizière erst mal auf die Bremse getreten: Im Herbst will er verkünden, wie die größte Reform der bundesrepublikanischen Wehrgeschichte ausgestaltet sein soll - da wird die Truppe allerdings schon eine reine Freiwilligen-Armee sein. Die Bewerberzahlen in Hamburg seien noch zufriedenstellend, heißt es im Kreiswehrersatzamt, doch die Konkurrenz mit der freien Wirtschaft sei groß, gerade an einem Standort wie Hamburg.

Was passieren könnte, wenn der Bundeswehr der richtige Nachwuchs wegbleibt, hat der Militärhistoriker Michael Wolffsohn mit dem Begriff der "Prekariatsarmee" beschrieben: einer Truppe, in der sich als Mannschaftsdienstgrade nur noch junge Menschen melden, die sonst nirgendwo einen Job finden würden. Wie in Spanien, wo man den nötigen Intelligenzquotienten senkte, oder in der US-Army, wo die Zahl der Vorbestraften wächst. In Deutschland, versichern die meisten Beteiligten, sei man von solchen Zuständen noch weit entfernt.

Allmählich kommen die Sorgen um den Nachwuchs auch in der Politik an. 8,3 Milliarden Euro sollte die Bundeswehr bis 2014 einsparen. Nun ist der Zeitraum etwas gestreckt worden. Ob das reichen wird, um einen Arbeitgeber attraktiver zu machen, für den man eventuell sterben oder töten müsste, ist fraglich. Die Bundeswehr hat Anzeigen in Printmedien und Spots im Fernsehen geschaltet, auch in Bussen hängen nun mehr Werbebanner. Zwölf Millionen Euro im Jahr hat man schon vor dem Beginn der Wehrreform für solche Maßnahmen ausgegeben. In diesem Jahr sind es 16 Millionen.

Unklare Vorgaben der Politik, ein schrumpfendes Budget, zögerliche Werbung für die eigene Sache und lebensgefährliche Einsätze. Vergleicht man die Bundeswehr mit einem Patienten, ist ihr Zustand kritisch, aber noch stabil - solange Menschen wie die Rekruten Allner und van Weeren dafür sorgen, dass neues Blut in den Körper nachfließt. Beide hätten nach eigenem Bekunden auch in ihrem Ausbildungsberuf einen Job finden können. Der Grund für den Wechsel? Das feste Einkommen einerseits, sagen sie. Aber dann nennen sie ganz einfache Dinge: die Kameradschaft, das Draußensein, die Abwechslung.

Doch um Schüler wie die aus Volksdorf für sich zu begeistern, muss Thomas de Maizières Truppe künftig wohl mehr bieten: Als das Abendblatt drei Wochen nach der Bundeswehr-Veranstaltung bei den Schülern anfragt, ob sich inzwischen jemand für eine Militärkarriere entschieden habe, meldet sich kein Einziger.