Nach Anwohner-Klage musste die Hamburger Kita “Marienkäfer“ schließen. Heute beschließt der Bundesrat ein Gesetz zur Tolerierung von Kinderlärm.

Hamburg. Sabine Skwara macht vorsichtig ein paar Schritte die Einfahrt entlang. Zwei polnische Bauarbeiter laden Steinplatten vom Laster, kleine Container mit Schutt stehen neben der Garage, auf dem Sand liegt ein Haufen grauer Pflastersteine. Hinten im Garten, erzählt Skwara leise, konnten früher die Kinder spielen. Damals, als hier noch die Kindertagesstätte Marienkäfer war. Jetzt wird das Haus umgebaut. Der kleine Hügel, auf dem die Kinder im Sommer immer die Rutsche runtergesaust sind, ist umstanden von Bäumen und Büschen. Das Grundstück grenzt an die Rennbahnstraße, die sich durch Marienthal zieht. "Als wir damals hier wegmussten, hätten wir es fast nicht mehr geschafft", sagt Skwara. Sie saß damals im Vorstand der Kita.

Am 8. August 2005 verkündete die Zivilkammer 25 des Landgerichts Hamburg das Urteil gegen die "Marienkäfer". Geschäftsnummer 325 O 166/99. "Der Anspruch der Kläger ist begründet, weil der Beklagte nicht zur Überzeugung des Gerichts bewiesen hat, dass die Grundstücke der Kläger nicht oder nur unwesentlich durch den Betrieb des Kindergartens beeinträchtigt werden", heißt es in dem Urteil. Zwei Nachbarn hatten gegen den Lärm der Kinder geklagt - und bekamen recht. Die "Marienkäfer" mussten schließen. "Wir waren sprachlos", sagt Skwara. Die zwei Kinder der 47-Jährigen besuchten die "Marienkäfer", als das Urteil erging.

Heute wollen die Vertreter der Länder im Bundesrat die Änderung des Bundesimmissionsschutzgesetzes beschließen. Drucksache 289/11, Tagesordnungspunkt 5. Der von Kindertageseinrichtungen und Spielplätzen ausgehende Kinderlärm sei zu privilegieren, um ein klares Signal für eine kinderfreundliche Gesellschaft zu setzen, heißt es in dem Gesetzentwurf. Anwohner müssen Kinderlärm tolerieren. Zu oft habe es in der Vergangenheit Klagen gegen Kitas gegeben. Sechs Jahre sind vergangen zwischen dem Urteil gegen die "Marienkäfer" und dem neuen Gesetz der Bundesregierung.

Die Geschichte der "Marienkäfer" in Wandsbek ist eine von Immissionswerten und Schallpegeln, von Gutachten und Gesetzen. Sie erzählt von Eltern, die um einen Platz für ihre Kinder in dieser Stadt gekämpft haben. Und es ist die Geschichte einer Politik, die in der Debatte über die Bedeutung der Kinder in der Gesellschaft ein symbolkräftiges Zeichen setzen wollte. Politiker kamen im Wahlkampf, sie zogen Fernsehteams, Sendewagen vom Rundfunk und Fotografen mit sich. Alle Akteure fanden für den Fall die so schön klingende Formel: Kinderlärm ist Zukunftsmusik. Andere Klagen gegen Kitas wurden öffentlich. Auch in Berlin.

In den Wochen nach dem Urteil saßen Skwara und andere Eltern oft zusammen. Im Wohnzimmer oder im Garten, mit Aktenordnern und Laptop. Und mit der Angst, dass ihrem Projekt Marienkäfer das Ende droht. Alle Beteiligten suchten nun einen Kompromiss. Bezirksamtsleiter Gerhard Fuchs hatte sich als Mediator eingeschaltet. Die Verhandlungen zwischen den Rechtsanwälten gingen hin und her. Ein Vergleich mit den Nachbarn scheiterte.

Gleich nach dem Urteil gegen die "Marienkäfer" machte sich Christian Maaß von Hamburgs GAL mit einem Gesetzesantrag dafür stark, den Lärm von Kindern zu privilegieren. In dieser Zeit, es war Spätsommer 2005 und die Bundestagswahl stand an, stellte der CDU-Bundestagsabgeordnete Jürgen Klimke die Anfrage mit der Nummer 8/158 bis 8/160 an das Umweltministerium in Berlin. Er warf der rot-grünen Bundesregierung vor, sie toleriere eine kinderfeindliche Lärmgesetzgebung - und forderte eine Änderung des Lärmschutzgesetzes. Der Fall "Marienkäfer" schwappte von den Tagesthemen in die Untergeschosse des Bundestags, zu den Fachpolitikern und ihren Referenten. Ein neues Gesetz kam in Bewegung.

"Die Mühlen der Politik mahlen langsam", sagt Sabine Skwara. "Aber sie mahlen sorgfältig." Und sie mahlten auf einmal in der ganzen Republik. Landespolitiker prüften, die Landesemissionsgesetze zu ändern, und diskutierten die bisherige Gleichsetzung von Kinderlärm und Gewerbekrach. Im März 2010 forderte der Bundesrat eine rechtliche Klarstellung der schwarz-gelben Bundesregierung zum Kinderlärm. Berlin hatte bereits seit 2009 als erstes Bundesland eine eigene Regelung erlassen. Hamburg zog 2010 nach.

Auf der einen Seite der Geschichte zurren Politiker in Hamburg und Berlin an Paragrafen und Gesetzen, debattieren und beschließen. Auf der anderen Seite durchleben Skwara und die anderen Eltern seit dem Scheitern des Vergleichs mit den Nachbarn die mühsame Suche nach einer neuen Bleibe für die "Marienkäfer". Und die Schlagzeilen halfen bei dieser Suche. Das Hamburger Mäzenenpaar Helmut und Hannelore Greve unterstützte den Kindergarten finanziell. Im September 2007 war der Mietvertrag so gut wie unterschrieben. Die Firmengruppe Otto Wulff bezahlte den Bau der neuen Kita, ein paar Kilometer entfernt von der alten Stätte. Der Wert: rund 800 000 Euro.

"Das war damals eine unglaubliche Teamleistung", sagt Sabine Skwara. Sie sitzt an ihrem Esstisch im Wohnzimmer und blättert in einem Fotoalbum über die Geschichte der "Marienkäfer". Skwara hat es selbst zusammengestellt. Bilder aus den Jahren 2003 bis 2009 zeigen Kita-Feste und Theateraufführungen. In dem Buch hämmern Kinder mit gelben Schutzhelmen und einem Marienkäfer darauf demonstrativ auf einen Grundstein aus Granit. Sie lächeln dabei brav in die Kameras. Auf einem anderen Bild posiert Ursula von der Leyen mit Kindern vor den Mikrofonen und Kameras. Es war der 18. Januar 2008, als die damalige Familienministerin Ursula von der Leyen zum Richtfest der Kita am Zikadenweg kam. Noch einmal drehten Fernsehteams Berichte über die Kita. "Unsere Kinder konnten Interviews mittlerweile im Schlaf führen", sagt Skwara. Die Ministerin trug beim Richtfest einen Button mit Marienkäfer an ihrem Anzug. Skwaras Buch ist eine Dokumentation - über den Weg eines Nachbarschaftsstreits hin zu einem neuen Gesetz. Für Skwara ist das Buch auch so etwas wie ein Familienalbum.

Als die Kita 2008 endlich ein neues Zuhause bekam, hatte sie dennoch keine Ruhe. Wer heute zum Grundstück im Zikadenweg fährt, sieht eine zwei Meter hohe und 60 Meter lange Lärmschutzwand. Sie erinnert an den Protest der Anwohner gegen die neue Kita. Die Kita hinter Mauern, so hieß eine Schlagzeile, als die "Marienkäfer" den neuen Nachbarn nachgeben mussten.

"Ein 60 Meter langes Fußballtor", nennt Skwara die Lärmschutzwand.