Der EKD-Ratsvorsitzende über die Osterbotschaft in Krisenzeiten, die Glaubwürdigkeit der Bundesregierung und Margot Käßmann.

Düsseldorf. Der höchste Repräsentant der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat sich innerhalb kürzester Zeit als eine der profiliertesten sozialpolitischen Stimmen des Landes etabliert. Im Abendblatt-Interview beweist er einmal mehr, dass er keine Furcht davor hat, der Politik auf die Füße zu treten.

Hamburger Abendblatt: Herr Präses, wir feiern an diesem Wochenende Ostern, die Auferstehung Jesu Christi. Ist Ihnen zum Feiern zumute?

Nikolaus Schneider: Mir ist auf jeden Fall zum Feiern zumute, weil Ostern das Fest des Lebens ist. Das heißt nicht, dass wir zu Ostern das Leben durch eine rosarote Brille sehen sollen. Aber wir sollten uns von den oft brutalen Realitäten unserer Tage - sei es in Japan, sei es in Libyen oder unserem eigenen Land - nicht erschlagen lassen.

In Japan spielt sich eine Atomkatastrophe ab, in Libyen herrscht Krieg, der Euro muss gerettet werden. Da kann Ostern recht unwichtig wirken ...

Schneider: Im Gegenteil: Je bedrohlicher die Situation ist, desto wichtiger ist Ostern. Man kann ja in so einer Weltlage zynisch werden - oder durch Ostern Zuversicht gewinnen. Weil Ostern die Zusage an den Menschen ist: Das Leben behält den letzten Sieg, du kommst durch, wenn auch mit Kratzern und Verwundungen. Aber du kommst durch.

Die Hamburger Protestanten werden nach dem Rücktritt Maria Jepsens erstmals ohne bischöfliche Osterbotschaft auskommen müssen. Wie lautet Ihre Botschaft an die Hamburger?

Schneider: Die Osterbotschaft nicht nur an die Menschen in Hamburg heißt: Die Auferstehung Jesu zeigt, dass das Leben stärker ist als der Tod. Darum: Lasst euch nicht kirre machen! Stimmt in die Freude über die Auferstehung ein. Diese Osterfreude blendet aber nicht aus, wie zerbrechlich unser Leben hier und jetzt ist. Sich von dieser Freude anstecken zu lassen heißt deswegen, auf die Nachhaltigkeit des Lebens zu achten. Das berührt mehrere Fragen: Wie produzieren wir Energie? Wie verbrauchen wir unsere Ressourcen? Wie hinterlassen wir den nachfolgenden Generationen den Planeten?

Wie politisch müssen die Osterpredigten in diesem Jahr werden?

Schneider: Es geht nicht darum, die Predigten zu politisieren. Auch jede theologische Auslegung der biblischen Botschaft fragt ja danach, wie man die eigene Glaubensgewissheit für das tägliche Leben und damit auch für die Politik nutzbar machen kann. Insofern geht es darum, die öffentliche Bedeutung des Evangeliums beispielsweise mit Blick auf die Lage in Japan oder den arabischen Staaten zu veranschaulichen.

Wie würden Sie auf Pastoren reagieren, die für die Atomkraft predigen?

Schneider: Ich würde sorgfältig zuhören, weil mich die Argumente für die Kernenergie interessieren, auch wenn meine Haltung eine andere ist.

Sie haben im vergangenen Herbst den Beschluss von Schwarz-Gelb zur Laufzeitverlängerung scharf kritisiert. Sind Sie jetzt im Reinen mit der Regierung?

Schneider: Wie die Politik endgültig entscheidet, müssen wir abwarten. Klar ist: Die Reaktorkatastrophe in Fukushima hat dem Begriff Restrisiko eine neue Bedeutung gegeben. Wir haben ganz neu begriffen, warum keine Versicherungsgesellschaft der Welt bereit ist, ein Atomkraftwerk zu versichern.

Wie glaubwürdig ist der Kurswechsel der Koalition nach den Ereignissen in Japan?

Schneider: Frau Merkel ist Physikerin. Sie weiß, wovon sie redet. Sie war bisher der Meinung, das Restrisiko könne man gesellschaftlich und technologisch vertreten. Jetzt weiß Frau Merkel, dass das nur bedingt gilt. Ich nehme der Bundeskanzlerin ab, dass sie nicht nur wahltaktisch gehandelt hat, sondern etwas neu erkannt hat. Die Fähigkeit, Positionen zu überdenken und neu zu diskutieren, ist eine Stärke und keine Schwäche.

Wann sollte Deutschland aus der Kernenergie vollständig aussteigen?

Schneider: So schnell wie möglich. Es gab ja bereits einen abgestimmten Plan, den die Energiewirtschaft mit der rot-grünen Bundesregierung ausgehandelt hatte. Daran kann man sich orientieren.

Hat ein beschleunigter Ausstieg noch Sinn, wenn man dafür Atomstrom aus dem Ausland importieren muss?

Schneider: Der Strom wird an Börsen gehandelt. Und die Nachfrage regelt das Angebot. Jeder Einzelne hat die Möglichkeit, bei seinem Energieversorger Strom zu bestellen, der nicht aus Atomkraft hergestellt wird. Je mehr Menschen diese Möglichkeit nutzen, desto stärker müssen sich die Energiekonzerne bemühen, Ökostrom zu erzeugen und anzubieten.

Da heißt, die Gesellschaft kann den Atomausstieg beschleunigen, wenn sie nur noch Ökostrom kauft?

Schneider: Die Gesellschaft kann den Atomausstieg vor allem beschleunigen, wenn sie den Stromverbrauch deutlich einschränkt. Wir haben hier noch riesiges Potenzial. Die Politik kann ihre Förderinstrumente anwenden, um dieses Potenzial auszuschöpfen.

Im vergangenen Jahr haben die Kirchen einen Regelsatz für Hartz-IV-Empfänger von mindestens 400 Euro gefordert. Nun liegt er bei 364 Euro - fünf Euro höher als 2010. Sind Sie enttäuscht?

Schneider: Dieser Beschluss macht mich ratlos. Wir haben die 400 Euro nicht mal eben so gefordert. Sondern wir haben in der Diakonie sehr genau berechnet, was ein Mensch zum Leben braucht. Der Regelsatz von 364 Euro ist eine politische Zahl.

Inwiefern?

Schneider: Die Regierung hat als Berechnungsgrundlage nicht mehr die unteren 20 Prozent, sondern auf einmal die unteren 15 Prozent angewendet. Bei der alten Berechnungsgrundlage wäre ein Plus von 15 Euro herausgekommen. Es bedrückt mich, dass die Politik so mit Bedürftigen umgeht. Hartz-IV-Empfänger haben keine Lobby, sie entscheiden keine Wahlen, und sie sind keine solventen Spender, für die man ganz andere Summen über den Tisch schieben kann. Im Umgang mit den Armen sollten wir einen ganz anderen Anspruch an uns haben.

Immerhin gibt es ein Bildungspaket, von dem 2,5 Millionen Kinder profitieren sollen. Aber nur zwei Prozent des Empfängerkreises haben die Zuschüsse beantragt.

Schneider: Aus unseren Bildungseinrichtungen wissen wir, dass die Antragsunterlagen erst ausgeliefert wurden, als die Diskussion um die Antragszahlen schon im Gange war. Das halte ich für schlechtes Handwerk. Man braucht Vorläufe für solche Reformen, man muss eine klare Informationsstrategie verfolgen und die zuständigen Menschen schulen.

Hat Sie der runde Tisch zum Bildungspaket zufriedengestellt?

Schneider: Die Verlängerung der Antragsfrist und die nun verabredete bessere Information aller Beteiligten ist notwendig, um die handwerklichen Fehler, von denen ich ja gerade sprach, auszubügeln. Aber das hätte von vornherein besser laufen können. Zufrieden bin ich, wenn das Geld endlich bei den Kindern ankommt und sie die Förderung erhalten, die sie verdienen.

Die Bundesregierung macht auch im Umgang mit Libyen einen handwerklich eher bedenklichen Eindruck. Was halten Sie vom deutschen Jein zum Libyeneinsatz?

Schneider: Natürlich sieht es merkwürdig aus, wenn Deutschland in einer Uno-Abstimmung auf einer Seite mit China und Russland steht. Aber ich begrüße die deutsche Zurückhaltung gegenüber dem Kriegseinsatz. Wenn man in so ein Land reingeht, muss man vorher wissen, wann und wie man wieder rausgeht. In Libyen ist das kaum zu beantworten.

Die katholische Kirche hält den Libyen-Einsatz grundsätzlich für richtig.

Schneider: Ich würde nicht so weit gehen und diesen Einsatz rechtfertigen. Aber ich kann die Gründe für den Einsatz nachvollziehen.

Welche Rolle muss Deutschland in diesem Konflikt einnehmen?

Schneider: Deutschland muss alles dafür tun, dass die internationale Gemeinschaft mit Gaddafi verhandeln kann. Die EU braucht hier dringend eine stimmige Politik. Erst macht Europa Geschäfte mit Gaddafi und sorgt dafür, dass er die Flüchtlinge aus Afrika von uns fernhält. Und auf einmal jagt Europa Raketen nach Libyen. Das kann ich beim besten Willen nicht verstehen.

Die Öffentlichkeit blickt seit Monaten auf die arabische Welt: Droht dabei die Lage der deutschen Soldaten in Afghanistan vergessen zu werden?

Schneider: Ich tue das jedenfalls nicht, und ich fürchte, dass auch der Einsatz in Afghanistan wieder Schlagzeilen machen wird: Die Taliban kommen jetzt quasi aus dem 'Winterurlaub' zurück. In den kommenden Monaten wird sich zeigen, ob die neue Strategie der internationalen Schutztruppe mit Blick auf die Taliban und die Befriedung von Regionen Früchte trägt.

Können Sie nachvollziehen, wenn Politiker ein sofortiges 'Raus aus Afghanistan' fordern?

Schneider: Ja, das kann ich nachvollziehen. Dieser Einsatz zieht sich in die Länge, und die deutschen Truppen werden immer tiefer in die Krise des Landes hineingezogen.

Ihre Vorgängerin im Amt des EKD-Ratsvorsitzes, Margot Käßmann, hat den Satz geprägt: Nichts ist gut in Afghanistan. Wie lautet Ihre Einschätzung?

Schneider: Es gibt Hoffnung in Afghanistan - aber auf ganz dünnem Eis. Mit anderen Worten: Das ganze Unternehmen kann noch scheitern. Ich würde nicht sagen, dass gar nichts gut ist in dem Land. Dennoch war Margot Käßmanns Satz nötig und richtig. Er hat bewirkt, dass wir den Einsatz endlich evaluiert haben.

Margot Käßmann ist nach ihrem Rücktritt jetzt so präsent wie zu ihren besten Zeiten als Bischöfin. Tut sie Ihnen damit einen Gefallen?

Schneider: Ich finde das ganz in Ordnung. Der Protestantismus hat nicht nur mit einer Stimme zu sprechen. Je mehr vom Protestantismus hörbar und erkennbar wird, desto besser. So spricht sie in ihrer Rolle und ich aus dem Amt des Ratsvorsitzenden heraus.

Sollte dem Ratsvorsitzenden nicht die größte öffentliche Aufmerksamkeit innerhalb der Kirche gehören?

Schneider: Da bin ich frei von Eitelkeiten.

Käßmann veröffentlicht Bücher, hält Lesungen und wird demnächst eine Talkshow moderieren. Profitiert die Kirche davon?

Schneider: Die Kirche profitiert immer von Menschen, die ihren Glauben überzeugend vermitteln und Glauben bei anderen wecken und andere Menschen dadurch mehr über sich und ihren Glauben erfahren. Dafür ist die Kirche da. Kirche ist doch kein Selbstzweck.