135.000 Menschen pendeln von Sachsen-Anhalt zur Arbeit in die Fremde. Politiker in dem Land machen Niedriglöhne und Abwanderung zu ihren Themen. Doch wen erreichen sie damit überhaupt noch? Eine Fahrt von Hamburg nach Oschersleben.

Oschersleben. Ein paar Kilometer hinter Helmstedt rauscht rechts die Autobahn-Abfahrt 63 vorbei, die Abendsonne über dem Lappwald bricht ihr Licht in der Windschutzscheibe des BMW 318 D und scheint auf Richard Enenkel. Sein Enkelkind sei ja jetzt schon fünf, erzählt er. „Man fragt sich manchmal schon, was man noch von der Familie zuhause mitbekommt.“ Der 54 Jahre alte Enenkel zuckt mit den Schultern. Sein Vater verstehe nicht, wieso der Sohn bei Mutters Zweiundachtzigstem nicht dabei sein kann. Der Geburtstag war an einem Mittwoch. Und wie fast jeden Mittwoch war Enenkel in seiner Einzimmerwohnung in Meckelfeld bei Hamburg – die Familie in Oschersleben 255 Kilometer weit entfernt. „Gewöhnen werde ich mich nie daran“, sagt er. Es ist Freitag, und Enenkel seit gut zwei Stunden auf dem Weg nach Hause.

Richard Enenkel ist einer von 135.000 Menschen, die zwischen ihrer Familie in Sachsen-Anhalt und einem anderen Bundesland pendeln, weil sie in ihrer Heimat keine Arbeit finden. Seit 2004 arbeitet er als Kundenbetreuer bei dem Gerätehersteller Miele in Hamburg. An etwa 45 Wochenenden im Jahr fährt Enenkel nach Oschersleben – erst hin und 48 Stunden später, am Sonntagabend, wieder zurück. 23.000 Kilometer pro Jahr. Er ist in seinem BMW dann nach Buenos Aires und zurück gefahren. Fast überall schneidet Sachsen-Anhalt im Ländervergleich schlecht ab: niedrige Löhne, hohe Arbeitslosigkeit, Abwanderung. Wer die Politiker in Oschersleben in den Tagen vor der Wahl an ihren Infoständen auf Märkten und in Fußgängerzonen trifft, hört sie vor allem über diese Themen diskutieren.

Sie reden dann immer auch über Enenkels Leben als Berufspendler. Doch ihn interessiert nur wenig, was die Minister, Landräte oder Bürgermeister zu sagen haben. Wer mit Enenkel über spricht, hört bald das Wort „Kasperei“. Bewegen würden die Politiker am Ende eh nichts. Das sagen viele in Sachsen-Anhalt. Laut einer Umfrage des MDR interessiert die Wahl am Sonntag nur 38 Prozent. Enenkel drückt aufs Gas und überholt eine Kolonne Laster. Keine Baustellen, keine Unfälle, keine Staus. Die A2 meint es heute gut mit ihm. Es wird allmählich dunkel.

An der Holztheke des Gasthofs „Schondelmaier“ trinken ein paar ältere Oscherslebener Frischgezapftes. Tina Turner läuft über die Anlage. Zwei der 30 Gästebetten sind diese Nacht belegt. Die Männer am Tresen unterhalten sich über das Erbeben in Japan und Biosprit E10, weil einer von ihnen den neulich doch aus Versehen fast getankt hätte. Über die Wahl spricht keiner. Auch nicht, als Wolfgang Zahn durch die Tür kommt. Er trägt ein hellblaues Jackett, einen roten Schal und in der Hand eine schwarze Aktentasche. Zahn ist Spitzenkandidat der SPD im Kreis Oschersleben – und er hat Rückenwind. Seine Partei legt in den Umfragen zu und liegt jetzt gleich auf mit den Linken bei 24 Prozent. Zahn bestellt sich ein Alsterwasser und holt ein paar Wahlplakate und Flyer aus der Aktentasche. „Mal (was) anderes wählen“ steht dort. Und: „Ich bleibe ich“. Es klingt wie ein Versprechen an Wähler, die Politiker in abgehobenen Parlamentssphären orten. Weit weg vom "Schondelmaier".

Damit sie noch einen Mehrwert von Zahns Wahlwerbung haben, ist auf der Rückseite des Flyers ein Kreuzworträtsel gedruckt. „Sonst schmeißen die Leute Wahlwerbung meist eh gleich weg“, sagt er. Dann wird’s mit Zahn schnell politisch. Noch immer gebe es zwischen Ost und West unterschiedliche Löhne, 20 Jahre nach der Wende. „Dem gehört ein Riegel vorgeschoben“, sagt er. Er fordert bessere Unternehmensförderung und regt sich über die hohen Abfallgebühren auf.

Seit der Gemeindegebietsreform 2007 ist Oschersleben keine Kreisstadt mehr. Ordnungsamt und Bauamt wurden abgezogen, einige Schulen geschlossen. Von den 27.000 Einwohnern zur Wendezeit sind gerade noch 21.000 geblieben. So wie Oschersleben geht es vielen Gemeinden in Sachsen-Anhalt. 49.030 Menschen haben das Land 2009 verlassen, 134 pro Tag. Nur 36.000 sind gekommen.

Es gibt viele Supermärkte in Oschersleben, mit großen Parkplätzen davor und wenigen parkenden Autos. Das Kino zeigt am Abend die Komödie „Big Mama’s Haus – die doppelte Portion“, beim Asiaten gibt es auch belegte Baguettes und deutsche Küche. In der Fußgängerzone stehen renovierte Fachwerkhäuser, eine kleine Bankfiliale, Lädchen verkaufen Mode oder Computerspiele, die Eisdiele am Rathausmarkt ist gut besucht. 25 Millionen hat Oschersleben seit 1991 in die Sanierung der Stadt investiert.

Richard Enenkel ist noch nicht dort angekommen. Er biegt kurz hinter Marienborn von der Autobahn ab. Das letzte Stück geht es über die Landstraße. 2004, erzählt er, schließt sein Arbeitgeber Miele die Außenstelle der Kundenbetreuung in Magdeburg. Enenkel schreibt 15 Bewerbungen an Unternehmen in der Umgebung. Er fragt auch bei seiner alten Firma nach, wo er noch zu Zeiten der DDR als Ingenieur Karosserien für Armeefahrzeuge zusammengeschraubt hat. Alle sagen ab, und Enenkel entscheidet sich dafür, zu Miele nach Hamburg zu gehen. Auch weil er dort Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld bekommt und 35 Stunden in der Woche arbeitet. "Was beschwerst du dich eigentlich?", fragen ihn Freunde in Oschersleben manchmal.

Seine Frau blieb dort. Auch sie arbeitet als Erzieherin in einem Kinderhort in Oschersleben. Die beiden Töchter sind schon seit Jahren ausgezogen. Erst einmal habe seine Frau ihn in Hamburg besucht, erzählt Enenkel. Als er Hilfe beim Umzug in eine neue Wohnung brauchte. Warum leben sie nicht gemeinsam in Hamburg? „Das geht nicht, die Eltern und Freunde leben doch in Oschersleben“, sagt Enenkel. Und ihr Haus steht dort. 1996 haben sie es gebaut. Enenkel hat die Gehwegplatten vor dem Haus verlegt, er hat den Swimming Pool und den Wintergarten gebaut, die Wärmepumpe im Keller und die Solaranlage auf dem Dach installiert. Das Haus, es ist das gemeinsame Lebensprojekt von Enenkel und seiner Frau. Es verbindet sie. Und es hält sie fern von einander – denn er muss in Hamburg arbeiten, damit sie sich dieses Projekt leisten können.

Die Landstraße vor Enenkel schlängelt sich durch kleine Orte wie Werfensleben und Ummendorf. Die Marxisten von der MLPD und die Rechten von der NPD teilen sich mit ihren Plakaten die Laternenpfähle. „Volksgesundheit statt Ärtzemangel“ propagiert die NPD, „Deutsche Kinder braucht das Land“ und den rechten Evergreen „Kriminelle Ausländer raus“. Immer wieder thematisiert die Partei das Demografie-Problem. Sie setzen auf den Frust der Wähler und stehen in Umfragen jetzt schon bei fünf Prozent. In einem Video auf der Webseite der Partei sagt eine Stimme aus dem Off, dass „unser Heimat Monat für Monat mehr ausblutet“. Am Ende zerknüllt ein junger Mann demonstrativ das Bahnticket in den Westen. Die Kandidaten der NPD zeigen sich in Hemd und Krawatte in dem Wahlvideo. Die Radikalen geben sich bürgerlich. Doch zeigen sie sich kaum beim Bürger.

Auf dem Wochenmarkt oder Rathausplatz von Oschersleben sieht man keine Infostände der NPD. Eine Anfrage der Redaktion an den Spitzenkandidaten der Rechtsextremen bleibt unbeantwortet. „Man sollte sich über die Idioten von der NPD sowieso nicht zu viel Gedanken machen“, sagt Enenkel. „Sondern viel eher um die etlichen frustrierten Nichtwähler.“

Wegen dieser Nichtwähler hat Gabriele Brakebusch am nächsten Morgen ein komisches Gefühl. Zu oft habe die Spitzenkandidatin der CDU im Wahlkampf üble Kommentare über Politiker gehört. Brakebusch trägt kurzes, mahagonirot getöntes Haar und eine knallorangene Fleecejacke. „CDU“ ist vorne auf die Brust gestickt. Stimmen die Umfragen, wird die CDU mit 30 Prozent stärkste Partei.

Brakebusch bringt den Oscherslebenern kleine Päckchen mit Blumensamen. Nur wer sät, kann auch ernten, steht auf der Tüte neben ihrem Foto. „Man kann die Samen auch in Kübeln pflanzen“, sagt sie. „Weil viele ja keinen Garten haben.“ Brakebusch zieht von Briefkasten zu Briefkasten, schaut beim Friseur vorbei und beim Gemüsemann. Viele freuen sich, manche sind verärgert. „Was soll ich mit Blumen, wenn ich kaum Geld habe“, mosert ihr ein Mann auf der Straße entgegen. Er sei Rentner und bekomme gerade mal 800 Euro im Monat. „Jeder Hartz-IV-Empfänger hat doch mehr als ich“, schimpft er. Brakebusch nickt verständnisvoll. Sie versucht ein paar Sätze zu sagen wie: „Wir müssen schauen, dass junge Menschen wieder in Lohn und Brot stehen. Das hilft am Ende auch Ihnen.“ Doch der Mann will gehört werden, nicht zuhören.

Nachher in ihrem Wahlkampf-Auto redet Brakebusch viel über eine gesunde Verbindung von Umweltschutz und Landwirtschaft, die für die Region wichtig sei. Sie kritisiert, dass die Förderung der lokalen Wirtschaft vernachlässigt wurde. Brakebusch fordert, das „private Kapital“ in Oschersleben stärker auch für die Menschen in den Dörfern einzusetzen.

Marcel Orban spricht für dieses private Kapital. Er ist Pressesprecher der Motorsport Arena in Oschersleben. Neben der 68er-Ikone Rainer Langhans, der hier geboren ist, gehört die Rennstrecke zu den Exportschlagern der Stadt. Einmal im Jahr treffen sich hier 60.000 Opel-Fans, die Deutsche Tourenwagen Meisterschaft (DTM) trägt ein Rennen im Motorpark aus, an 280 Tagen im Jahr vermietet die Arena die Strecke für Tests der Autoindustrie oder Trainingsfahrten. 2010 machte das Unternehmen acht Millionen Euro Umsatz. „Wir haben die vergangenen Jahre schwarze Zahlen geschrieben“, sagt Orban.

Er sitzt vor seinem Flachbildschirm im Büro. An der Wand hängen Plakate, auf denen Rennfahrer Trophäen in die Luft recken. Draußen, hinter den Panorama-Scheiben, zischt ab und zu ein Rennwagen vorbei. Mehr als 80 Mitarbeiter beschäftigt die Arena, allein 60 davon in dem eigenen Hotel an der Strecke. Jedes Jahr bildet das Unternehmen zwölf junge Menschen aus. Kaufleute, Event-Manager und Hotelfachleute. „Viele Geschäfte hier leben von unseren Großveranstaltungen“, sagt er. Bei 24-Stunden-Rennen würden die Supermärkte auch mal die Nacht über geöffnet sein. Bei der DTM seien alle Hotelzimmer Wochen im Voraus ausgebucht. Aber Westlöhne zahlen, das sei einfach nicht drin, sagt Orban. Die Firma engagiere sich dafür vor Ort. Auf ihrer Webseite sind auch Sehenswürdigkeiten der Region verlinkt. Das Schloss Neindorf, das Stadtmuseum und die Burganlage Ampfurth. Seit März ist die Arena Pate der Straußenhenne im Wiesenpark von Oschersleben.

Im Brummen der Motoren am Rande der Stadt klingt immer auch ein wenig Hoffnung auf Aufschwung und Jobs mit. Und es gibt Berechtigung für diese Hoffnung. Die Arbeitslosigkeit in Sachsen-Anhalt ist zwar immer noch hoch, ging aber 2010 deutlich zurück. Die Löhne sind niedrig, wachsen aber so stark wie in keinem anderen Bundesland. Mit Erfolg werben ostdeutsche Hochschulen um Studenten. Auch weil die Studenten in Magdeburg oder Halle keine Gebühren für ihr Studium zahlen müssen.

Den Aufschwung für Oschersleben sieht Jürgen Ohst nicht. Der Spitzenkandidat der Linken drückt einem zur Begrüßung erstmal eine schmale Broschüre in die Hand. „Hier steht alles drin“, sagt er. Er ist auf seinem Motorrad in die Waldschänke am Wiesenpark gekommen. Die schütteren Haare sind etwas zerzaust von seinem Helm, der Vollbart kräuselt sich im Gesicht, auf der Nase funkelt eine Gregor-Gysi-Brille. Ohsts Sicht auf die Dinge ist so schwarz wie der Kaffee in seinem Becher. „Es wandern immer die ab, die gut ausgebildet sind und eine Arbeit haben. Wer hier bleibt, sind die Armen und Arbeitslosen“, sagt er. Und die hätten mit der Politik zu viele Enttäuschungen erlebt. Ohst selbst klingt in manchen Sätzen wie ein verdrossener Nichtwähler. Als er vor 15 Jahren mit seiner Familie in das Dorf Druxberge gezogen ist, habe er den Niedergang auf dem Land erlebt. Weil er das ändern wollte, sei er bei der PDS gelandet.

Geboren ist Ohst in Düsseldorf, im Studium in Berlin hat er ein, zwei Jahre lang Häuser besetzt und Schriften über Anarchismus gelesen. Aber man werde ja pragmatischer, sagt er. Abfinden wolle er sich mit dem „System“ trotzdem nicht. „Fortschritt ist für mich etwas anderes als ein flacheres Handy“, sagt er. „Wir brauchen einen sozialistischen Relaunch.“ In der real existierenden Demokratie nach der Wahl heißt das für ihn erst einmal kostenlose Busse und kleine Bio-Bauernhöfe statt zentraler Großbetriebe. Auch mit Gentechnik könne man Standorte in Sachsen-Anhalt nicht retten. „Das treibt die Bauern nur in die Hände von Konzernen wie Bayer“, sagt Ohst.

Wie teuer kostenloses Busfahren sein würde, weiß er noch nicht. Aber er wisse dafür umso besser, dass es so mit Oschersleben nicht weitergeht. Allein in seiner Gemeinde hätten in den vergangenen Jahren zwei Geschäfte, eine Kneipe und das Gymnasium geschlossen. So habe er sich das nicht vorgestellt, als er damals aufs Land zog.

Die Dämmerung über Oschersleben verabschiedet sich langsam in die Nacht, als Richard Enenkel in seinem schwarzen BMW auf die Einfahrt vor seinem Haus einbiegt. Er werde gleich noch kurz seine Emails lesen. Und weil es schon spät ist, werde es zum Abendbrot auf die Schnelle nur ein paar Schnittchen geben. Mit Wurst und Käse, dazu Gurken und Bier. Vielleicht schaut er dann noch gemeinsam mit seiner Frau ein bisschen Fernsehen. „Der Freitag ist gelaufen“, sagt Enenkel.