Die Regierung hat die AKW-Abschaltung mit der heißen Nadel gestrickt. Die Konzerne könnten mit guten Erfolgsaussichten dagegen klagen.

Berlin. Japans Botschafter Takahiro Shinjo geht mit gesenktem Kopf an dem guten Dutzend Kameras vorbei. Er will an diesem Mittwoch nichts sagen, zu erschütternd sind die Nachrichten vom Unglücksreaktor Fukushima. Im Sitzungssaal 3101 des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses hatten ihm zuvor die Mitglieder des Umweltausschusses des Bundestags ihr Mitgefühl ausgesprochen.

Dann wandten sie sich wieder der deutschen Atomdebatte zu und verlangten Antworten von Umweltminister Norbert Röttgen (CDU), der nach Fukushima zum Atomausstiegsminister werden will. Doch die Entscheidung, dass fünf Atomkraftwerke bis zum 15. Juni abgeschaltet werden und auch der sich in Revision befindende Meiler Biblis B, sowie die ohnehin stillstehenden Anlagen Krümmel und Brunsbüttel vom Netz bleiben, ist erklärungsbedürftig. Röttgen sucht nach Worten. Am Montag hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) noch gesagt, die Laufzeitverlängerung werde ausgesetzt, in dieser Zeit sei eine Übertragung von Reststrommengen nicht möglich. Doch nun erklärt Röttgen nach der Sondersitzung des Umweltausschusses, das dreimonatige Moratorium sei politisch, nicht rechtlich gemeint. „Die Exekutive kann nicht Gesetze außer Kraft setzen“, sagt er. Das bedeutet: Die 11. und 12. Novelle des Atomgesetzes mit den längeren Laufzeiten gelten weiter. Daher müsste rechtlich gesehen auch – anders als von der Regierung dargestellt – Neckarwestheim I nicht sofort vom Netz. Und wenn die Betreiber in den nächsten drei Monaten sehen, die Regierung will bestimmte Meiler ganz stilllegen, können sie deren Restlaufzeiten von mindestens acht Jahren flugs auf neuere Meiler übertragen. Dazu brauchen Eon, RWE, EnBW und Vattenfall nicht das Okay der Atomaufsichtsbehörden, sondern eine Mitteilung an das Bundesamt für Strahlenschutz reicht. Röttgen dementiert dies nicht und sagt lediglich: „Das sind abwegige Gedanken“. Die Konzernewurden von dem Aktionismus der Bundesregierung kalt erwischt. Schon heißt es in Koalitionskreisen, man müsse schneller als Rot-Grün aus der Atomkraft aussteigen, also noch vor 2025. Röttgen nennt ein Zeitfenster von zehn bis 15 Jahren. Röttgen hält eine neue gesetzliche Regelung nach dem Moratorium für möglich.

„Wir warten jetzt erstmal auf die Weisung der Aufsichtsbehörden“, heißt es in den Konzernzentralen auf Fragen, ob man gegen die Zwangsanordnung klagen will. Man sei gespannt, wie das Abfahren der Anlagen begründet wird. Allerdings könnte eine Klage zu einem neuen Atomgesetz mit deutlich kürzeren Restlaufzeiten führen. Die Regierung stützt ihre Abschalt-Maßnahme auf § 19, Absatz 3, des Atomgesetzes, das heißt, die Meiler werden wegen konkret drohender Gefahren stillgelegt. „Doch die Situation ist die gleiche wie im Herbst bei der Laufzeitverlängerung“, sagen die Betreiber - die Anlagen seien sicher. Röttgen sagt, es handele sich um „Gefahrenvorsorge“, Juristen geben Klagen gegen die Zwangsabschaltung gute Chancen. Grünen-Fraktionschefin Renate Künast findet, das sich Merkel mit dem Ziehen des Paragrafen für einen atomaren Sonderfall erpressbar mache – den Konzernen entgehen durch die Stillstände mehr als 500 Millionen Euro. Die Konzerne könnten sagen, „der Sonderfall hat gar nicht vorgelegen, welchen Schadensersatz zahlst du?“, betont Künast. SPD, Grüne und Linke fordern angesichts des Schwebezustands rasch ein neues Atomgesetz und eine Abschaltung der acht auf Standby geschalteten Anlagen sowie den Verfall von deren Reststrommengen, damit die anderen Meiler nicht über das Jahr 2050 hinaus laufen. Röttgen hat sich am Dienstag nach Meinung der Fraktionsvize Ulrich Kelber (SPD) und Bärbel Höhn (Grüne) als Blender entlarvt, dessen wohlklingende Worte nicht zu seinem Handeln passten. Röttgen laviert etwas, aber letztlich wird der Sicherheits-Check wohl auf Basis des Kerntechnischen Regelwerks aus den 80er Jahren stattfinden - verantwortlich ist der Abteilungsleiter für Reaktorsicherheit, Gerald Hennenhöfer, der zuvor beim AKW-Betreiber Eon beschäftigt war.

Die Grünen rechnen daher mit „business as usual“ und halten die ganze Atom-Kehrtwende für eine Show. Höhn verweist darauf, dass das von den Umweltministern Jürgen Trittin (Grüne) und Sigmar Gabriel (SPD) erarbeitete kerntechnische Regelwerk mit schärferen Standards von Röttgen und Hennenhöfer nicht in Kraft gesetzt worden ist. Der von den Ländern unterstützte Entwurf steht auf der Ministeriumsseite und sollte bis 2011 umgesetzt werden. Röttgen sagt:Gabriel habe die Arbeit am neuen Regelwerk nicht zu Ende gebracht. Das gehöre zu den vielen unerledigten Aufgaben, die Gabriel ihm hinterlassen habe.

Steinmeier: Regierung will nur über Landtagswahlen hinwegkommen

SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier hält das dreimonatige Atommoratorium der Bundeskanzlerin hingegen nur für ein Manöver im Landtagswahlkampf. „Ich glaube nicht an eine Wende“, sagte Steinmeier der „Passauer Neuen Presse“. „Es gibt keine klare Antwort der Regierung, ob Stilllegungen von Atomkraftwerken nur zeitlich befristet oder dauerhaft sein sollen. Nichts ist klar, nur: Die Regierung will Zeit gewinnen, um über die Landtagswahlen hinwegzukommen.“

Ein halbes Jahr nach der Verlängerung der Laufzeiten für Kernkraftwerke sehe man, „dass das eine verhängnisvolle falsche Entscheidung war“. Für Steinmeier ist „Kernenergie keine menschengemäße Technik. Wir beherrschen sie nicht und müssen zum Ausstieg zurück.“

Der SPD-Politiker bezeichnet es als „große Lüge der Regierung“, dass der Umstieg auf erneuerbare Energien mehr Zeit benötige und die Laufzeitenverlängerung dies ermöglichen sollte. Der Atomkonsens von Rot-Grün habe Rücksicht auf eine sichere Energieversorgung genommen und das Auslaufen der Kernenergie auf einen 20-Jahres-Zeitraum gestreckt. „Das war die Energiewende, auf die sich die Investoren eingestellt hatten. Erst die Verlängerung der Laufzeiten hat die Investitionsplanungen der regionalen und lokalen Energieversorger zerstört.“ (dapd/dpa)

Röttgen rechnet mit neuem Gesetz zur Atomkraft

Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) hält ein neues Gesetz zur Atomkraft nach Ende des dreimonatigen Atom-Moratoriums für wahrscheinlich. „Gesetzgebungsverfahren mögen das Ergebnis des Moratoriums sein“, sagte Röttgen am Mittwoch in Berlin. „Ich persönlich rechne auch mit gesetzgeberischen Maßnahmen.“ Sieben ältere Meiler werden mindestens vorübergehend während der Zeit des Moratoriums abgeschaltet, wie Kanzlerin Angela Merkel (CDU) am Vortag angekündigt hatte. Zudem bleibt das neuere AKW Krümmel vom Netz. Das Moratorium sei ein politischer, kein rechtlicher Schritt, sagte Röttgen am Rande einer Sondersitzung des Umweltausschusses des Bundestags zur Zukunft der 17 deutschen Atomkraftwerke. „Die Exekutive kann nicht Gesetze außer Kraft setzen.“ Damit gilt die Laufzeitverlängerung gemäß den Atomgesetznovellen der Koalition weiter.

Die Betreiber könnten Reststrommengen der nun erst einmal abgeschalteten älteren Meiler demnach auf die neueren übertragen. Für Röttgen ist dieses Szenario aber unrealistisch:„Das sind abwegige Gedanken“, sagte er. Der Freiraum der nächsten drei Monate müsse genutzt werden, um tabufrei einen breiten gesellschaftlichen Dialog über die Atomkraft zu führen, sagte Röttgen. „Wir sind der Überzeugung, dass es jetzt eines zügigen Handelns bedarf.“ Gesetzgebung brauche aber Zeit. „Es bedarf einer zügigen Überprüfung von Sicherheit und der Annahmen von Sicherheit.“ Der Opposition, die eine Rechtsbasis für die Abschaltung vermisst und Schadenersatzforderungen von AKW-Betreibern fürchtet, warf Röttgen „juristische Spitzfindigkeiten“ vor. Länder und Bund hätten im Gesetz eine Ermächtigungsgrundlage für die vorübergehende Abschaltung der betroffenen Meiler zur Überprüfung der Sicherheit. „Es geht nicht darum, dass diese Kernkraftwerke als unsicher angesehen werden, sondern es geht um eine Maßnahme der Vorsorge.“ (dapd/dpa)