In Deutschland gibt es 7,5 Millionen Analphabeten. Weit mehr als gedacht. Uwe Boldt ist einer von ihnen - und er lernt schreiben. Mit 51 Jahren.

Hamburg. Uwe Boldts Visitenkarte ist auch seine Botschaft. Rechts neben der Adresse ist ein kleines Bild der Route 66 gedruckt, wie sie sich in den Weiten der amerikanischen Prärie verliert. Wege lohnen sich - auch wenn sie steinig und mühsam sind, sagt Boldt. Vor sechs Jahren hat er noch einmal angefangen, lesen und schreiben zu lernen. Er übte Silbentrennung, buchstabierte Wörter wie "Meeresblick" oder "Ampel" und schrieb erste kurze Diktate. Boldt lernte wie ein Grundschüler, dabei war er 45 Jahre alt.

Gestartet ist Boldt nicht auf der Route 66, sondern am Bullenhuser Damm. Damals in den 60ern sitzt er in der hintersten Tischreihe in der Hauptschule in Rothenburgsort. In Deutsch hat Boldt immer eine 6. Wenn er liest, klingt es mehr nach Stottern. Mitschüler hänseln ihn. Doch die Lehrer interessiert das irgendwann nicht mehr. "Versetzt aus pädagogischen Gründen", steht in seinem Zeugnis nur.

Der Vater arbeitet im Hafen und ist kaum zu Hause, und die Mutter hilft nicht bei den Schulaufgaben. Ohne Abschluss verlässt Boldt die Schule.

Wenn es etwas gibt, das Uwe Boldt viele Jahre nicht an sich herangelassen hat, dann ist es alles, was mit dem Wort "Schule" zu tun hat. Er traute sich nicht zu Schreibkursen an die Volkshochschule und auch jetzt, als er im Café in der Europa-Passage sitzt und über seine Schulzeit erzählen soll, verdrängt er sie lieber. "Ich kann mich an diese Zeit nicht mehr richtig erinnern", sagt er. "Und ich will mich wohl auch nicht erinnern", fügt er leise hinzu.

Boldt kaschiert lange mit Ausreden, dass er nicht richtig lesen und schreiben kann: Brille vergessen, Finger verstaucht oder "Kannst du mal eben". "Irgendwie habe ich mich durchgewurschtelt." Diesen Satz sagt der 51 Jahre alte Boldt oft, wenn er über sein früheres Leben spricht.

Ein Leben, das Boldt mit 7,5 Millionen Menschen in Deutschland teilt. Es sind fast doppelt so viele Menschen, sogenannte funktionale Analphabeten, wie bisher angenommen. Die zwar einzelne Sätze lesen oder schreiben können, aber keine zusammenhängenden Texte. Obwohl das Problem des Analphabetismus seit Jahrzehnten bekannt ist, gab es bisher nur Schätzungen. Das Bildungsministerium fördert seit 2007 mehr als 100 Projekte zum Thema Alphabetisierung und investiert 30 Millionen Euro.

Dazu gehört auch ein Projekt an der Universität Hamburg, das nun erstmals die Zahlen zum Analphabetismus in Deutschland wissenschaftlich ermittelt hat. In den Büroregalen von Anke Grotlüschen liegen die Testbögen der mehr als 8000 Befragten zur ersten bundesweiten Studie über die Anzahl der Analphabeten. In den Tests sind Fotos von Werbeplakaten oder Verkehrsschildern abgebildet, auch Aphorismen und Kunstwerke. Wörter wie Bäcker, Pflaster und Auffahrt fragt der Test ab.

"Deutschland hat bisher geschlafen", sagt die Professorin für Erwachsenenbildung. "Die Franzosen und die Engländer haben genaue Zahlen von Analphabeten erhoben und eine Strategie für Alphabetisierung entwickelt." Neun Prozent der Erwachsenen in Frankreich gelten als Analphabeten. Deutschland habe sich nach der PISA-Studie nur auf die Verbesserung der Schulleistungen von Kindern konzentriert - die Defizite der Erwachsenen aber weiterhin vernachlässigt.

Es gibt nicht den einen Analphabeten, der bei Unterschriften nur drei Kreuze macht. Grotlüschen unterscheidet fünf Stufen, von "Alpha 1", die nur mühsam einzelne Wörter schreiben können, bis "Alpha 5", die einfache Texte formulieren können.

Uwe Boldt fing mit 45 Jahren als Alpha 1 an. Er konnte Buchstaben und gerade noch einfache Wörter wie Haus oder Hund schreiben. "Stellen Sie sich vor, Sie haben minus zwei Dioptrien, gehen ohne Brille durch die Stadt und versuchen etwas zu lesen", sagt Boldt. Wörter verschwimmen zu einem Dickicht der Buchstaben. Oft können Analphabeten Buchstaben nicht genau unterscheiden, Laute fügen sich nicht zu Wörtern zusammen - sondern zu einem wirren Buchstabensalat. Lesen wird für den Analphabeten zur Anstrengung. Viele schauen dann lieber gleich weg. "Wer Urlaub in Athen oder Moskau macht, weiß, wie sich der Betroffene fühlt, wenn er durch die Straßen geht", sagt Professorin Grotlüschen.

Wer nicht rechnen kann, nimmt einen Taschenrechner. Wer nicht lesen und schreiben kann, braucht Tricks. Sonst ist er verloren in einer Welt, in der Chefs Arbeitsberichte brauchen, die Behörde Formulare verlangt, Bestellzettel ausgefüllt werden müssen, die Kasse im Supermarkt wie ein Computer funktioniert und Flugtickets im Internet gekauft werden. Sowieso kommunizieren die Menschen durch E-Mail und SMS so viel wie noch nie. Unsere Welt ist aus Buchstaben zusammengebaut. Menschen, die an dieser Welt nicht mitbauen können, suchen sich Nischen. Und einen Beruf, in dem sie vor allem mit ihrem Körper arbeiten.

Seit er 17 Jahre alt ist, arbeitet Uwe Boldt im Hamburger Hafen. Die Abschlussprüfung zum Hafenfacharbeiter konnte er bestehen, weil er die Antworten nur ankreuzen musste. Heute fährt Boldt Gabelstapler und transportiert Lasten bis zu 50 Tonnen. Der Chef wusste lange nichts von seiner Lese- und Schreibschwäche. Nur einige Kollegen weihte er ein - auch weil er auf ihre Hilfe angewiesen ist, beim Ausfüllen von Berichten oder Bestellungen. Akzeptiert fühlt sich Boldt dennoch. Die Kollegen schätzen ihn wegen seiner Zuverlässigkeit und seiner Offenheit, erzählt er.

Geht Boldt heute durch die Stadt, erkennt er Straßenschilder oder Werbetafeln ohne große Anstrengung. Fährt er mit der U-Bahn, helfen ihm die Farben der Linien zur Orientierung. Wenn er bei der Bank eine Überweisung macht, nimmt er einen alten Antrag mit und gleicht ab.

Almut Schladebach kennt diese Geschichten. Das Haus der Volkshochschule in Billstedt liegt in einem Hinterhof, abseits der vierspurigen Hauptstraße mit ihren Imbissbuden, Supermärkten und Sparkassen. Fast scheint es so, als verstecke es sich vor den Menschen. Genauso wie viele der etwa 200 Kursusteilnehmer es lange Zeit in ihrem Leben getan haben - und jetzt dort lesen und schreiben lernen.

Wer das Büro von Almut Schladebach betritt, kommt an einer Postkarte an der Tür vorbei. "Genitiv ins Wasser, weil es dativ ist", steht dort. Auf ihrem Schreibtisch liegen noch andere Postkarten, Broschüren, Bücher. Die Position von Schladebach ist Luxus an deutschen Volkshochschulen. Sie unterrichtet nicht nur, sondern konzentriert sich vor allem auf die Öffentlichkeitsarbeit. "So etwas kann sich kaum eine VHS leisten", sagt sie.

Gemeinsam mit fünf Kollegen baute Schladebach Ende der 80er die Abteilung Alphabetisierung in der Hamburger Volkshochschule auf. Im Jahr 2009 unterrichteten die Volkshochschulen 171 348 Stunden lang das Lesen und Schreiben, in 3361 Kursen in ganz Deutschland. Schladebach holt einen Brief an die VHS heraus: Wörter wie "Betrift", "mumentahn" und "dar herr" stehen dort im ersten Satz. "Stufe Alpha 3", sagt sie.

4000 Flyer zur Grundbildung verschickt Schladebach im Jahr - an Arbeitsämter, Arztpraxen und Schulen. Und doch sei es schwer, Menschen mit Lese- und Schreibschwäche zu erreichen und in die Kurse der VHS zu holen. "Die Betroffenen bringen aufgrund der erlebten Misserfolge und der Diskriminierung nur schwer den Mut auf, einen Neuanfang zu machen", sagt sie. Scheidung der Eltern, häufige Schulwechsel durch Umzüge, all das können Gründe für Analphabetismus sein, sagt Schladebach. Vor allem aber auch die fehlende Förderung in der Schule.

So war es auch bei Sabine Schulte. Ihren richtigen Namen möchte sie nicht genannt haben - zu oft schon hat sie verletzende Sprüche und Ausgrenzung erlebt. Die 49 Jahre alte Frau sitzt im Unterrichtsraum der VHS Billstedt. Sie spricht leise, ihr blondes Haar liegt glatt an ihrem schmalen Gesicht. Seit fünf Jahren besucht sie Schreibkurse, lesen kann sie gut.

Früher in der Schule duldeten die Lehrer nicht, dass Schulte Linkshänderin ist. "Dann haben sie mir meine linke Hand an den Stuhl festgebunden, damit ich mit rechts schreibe", sagt sie. Es war eine Lehrer-Generation, die drakonische Maßnahmen für gute Pädagogik hielt. Vor allem ihre Lehrer, meint Schulte, seien schuld daran, dass sie nicht richtig schreiben kann. Selten saßen weniger als 30 Kinder in der Klasse, alle paar Monate wechselten die Lehrer. Erst als Schulte auf die Sonderschule kam, gaben die Lehrer ihr Nachhilfe.

Heute schreibt Schulte mit rechts. Zu Hause in ihrer Wohnung in Harburg hängt eine Liste mit Wörtern, die ihr nicht richtig gelingen wollen. "Draußen" steht da, oder "vielleicht" und "sogar". Wörter mit d oder t und u oder o sind für sie tückisch. Die Buchstaben klingen für sie wie eineiige Zwillinge.

Mit 16 holte Schulte ihren Hauptschulabschluss nach und machte eine Ausbildung zur Floristin. Doch im Moment ist Schulte arbeitslos. Immer wieder stößt sie bei der Suche nach einem Job auf eine Gesellschaft, in der Analphabetismus für viele Menschen nach einem unheilbaren Virus klingt.

"So etwas wie Sie brauchen wir hier nicht." Diesen Satz hat Schulte schon oft von Chefs in einem Bewerbungsgespräch gehört, wenn sie erzählt, dass sie nicht richtig schreiben kann. "So etwas wie Sie", sagt Schulte dann noch einmal etwas lauter. "Was soll das denn bitte heißen?!"

Dabei kann man Sprache und Schrift trainieren wie einen Muskel, egal in welchem Alter. Sabine Schulte und Uwe Boldt beweisen das. Sie besuchen zweimal in der Woche Schreibkurse. Schulte schreibt sogar Kurzgeschichten. "Der traurige Clown" und "Die Reise der Buchstaben" heißen sie. Im vergangenen Frühjahr waren beide gemeinsam auf einem Seminar in Belgien. Analphabeten aus mehreren Ländern Europas waren dort. Botschafter des Tabubruchs. Eine Woche lang haben sie in Übungen Buchstaben auf Pappe gemalt, Plakate und Postkarten entworfen und sogar ein Manifest der europäischen Analphabeten verfasst, das sie dem Europäischen Parlament überreichen wollen. Sie fordern darin auch, dass Lehrer stärker für das Thema Analphabetismus sensibilisiert werden.

Heute lebt Boldt mit seiner zweiten Frau in Lüneburg. Er ist zufrieden. Und er schreibt. Einkaufszettel, kurze Nachrichten für den Küchentisch, löst Kreuzworträtsel in der "Bild" oder übt zu Hause am Computer auf der Internetplattform " www.ich-will-lernen.de ".

Boldt holt ein paar gebundene Seiten aus seiner Tasche. Auf dem Seminar in Belgien habe er in ein Tagebuch geschrieben. Zehn Seiten, mit Fotos. Am Tag zwei steht dort: "Wir haben am furmittag ein Spiel gemacht Namens Rotkebjen um die Spache Bisser zu vergleichen, und spanung zu verkeiner, da bei habe ich fest gestelt das die Sprache und die Mimick von den ander auch so ist wie in Deuthland." Und noch etwas habe er in diesen Tagen in Belgien geschrieben, sagt Uwe Boldt dann. Einen Liebesbrief an seine Frau. Den ersten in seinem Leben.

Hilfe und Informationen für Erwachsene gibt es beim Alfa-Telefon des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung e.V. unter: 0800 53 33 44 55.