170.000 Erwachsene können kaum lesen und schreiben. Mehr als zwei Millionen Menschen scheitern schon an einzelnen Sätzen.

Hamburg/Berlin. Die Zahl der Analphabeten in Deutschland ist deutlich höher als bisher geschätzt. Experten gingen bisher von etwa vier Millionen Betroffenen aus. Doch nach einer Studie der Universität Hamburg, die Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) gestern in Berlin vorgestellt hat, können sogar etwa 7,5 Millionen Deutsche zwischen 18 und 64 Jahren nicht richtig lesen und schreiben. Mehr als zwei Millionen Menschen scheitern schon an einzelnen Sätzen oder Wörtern.

Insgesamt 14,5 Prozent aller Erwachsenen im Alter zwischen 18 und 64 Jahren sind in Deutschland nach den Erkenntnissen der Hamburger Wissenschaftler sogenannte funktionale Analphabeten. Diese Menschen können zwar einzelne Sätze formulieren, jedoch keine zusammenhängenden kürzeren Texte - obwohl die überwiegende Mehrheit von ihnen einen Schulabschluss hat. Nur knapp 20 Prozent der funktionalen Analphabeten haben die Schule ohne Abschluss verlassen. Und etwa jeder achte funktionale Analphabet hat sogar einen höheren Bildungsabschluss.

In Ballungszentren und Großstädten sei Analphabetismus besonders verbreitet, sagt Anke Grotlüschen. Die Professorin für Erwachsenenbildung an der Universität Hamburg und ihre Kollegin Wibke Riekmann sind verantwortlich für die Studie, in der mehr als 8400 Erwachsene befragt wurden. Genaue Zahlen für einzelne Bundesländer wurden zwar nicht ermittelt, dennoch ist davon auszugehen, dass auch in Hamburg mindestens jeder siebte Erwachsene zwischen 18 und 64 Jahren funktionaler Analphabet ist.

Defizite in der deutschen Sprache haben laut der Studie nicht nur Migranten. 58 Prozent der Analphabeten sprechen Deutsch als Muttersprache, 41 Prozent haben eine andere Erstsprache gelernt. "Vor allem eines muss der Politik große Sorgen bereiten: Die Anzahl der Analphabeten mit einem Schulabschluss ist deutlich höher als erwartet", sagt Professorin Grotlüschen. "Ein Schulabschluss allein reicht einfach nicht fürs Leben."

Ministerin Schavan und der Präsident der Kultusministerkonferenz der Länder, Niedersachsens Kultusminister Bernd Althusmann (CDU), forderten angesichts der Studienergebnisse "eine nationale Kraftanstrengung". Schavan kündigte einen "Grundbildungspakt" an, der bis zum Juli gemeinsam mit Bundesländern, Firmen, Kammern und Gewerkschaften geschlossen werden soll.

57 Prozent der Betroffenen seien erwerbstätig - deshalb müssten auch die Unternehmen sensibilisiert werden, sagte die Ministerin. Sprachtests und Schreibkurse in Firmen könnten ein Teil der Initiative sein, sagte sie. Für ein in Kürze beginnendes Programm zur "arbeitsplatzorientierten Alphabetisierung und Grundbildung" will ihr Ministerium zudem 20 Millionen Euro bis 2014 zur Verfügung stellen.

Die SPD spricht nach der Veröffentlichung der Studie von einem "Alpha-Schock". Der bildungspolitische Sprecher der Bundestagsfraktion, Ernst Dieter Rossmann, nannte das Ergebnis bedrückend und gleichzeitig eine große Herausforderung. "Wir müssen lernen, in Familien, Vereinen, Nachbarschaft, Betrieben genauer hinzuschauen und hinzuhören, um Brücken zu bauen", sagte Rossmann dem Abendblatt. Bildungsexperten wie Ulrike Hanemann vom Unesco-Institut in Hamburg fordern zudem neue Strategien, um Analphabeten mit den Angeboten der Erwachsenenbildung besser zu erreichen.