Deutscher Städtetag fordert, der Bund solle sich mehr an Sozialleistungen beteiligen. Kommunen leiden unter der steigenden Last der Ausgaben.

Berlin. Die aufdrehende Konjunktur beschert den Staatskassen noch in diesem Jahr einen zusätzlichen zweistelligen Milliardenbetrag. Doch Entspannung löst die Finanzspritze in der Koalition keineswegs aus. Union und FDP warnen davor, etwa am rund 80 Milliarden Euro schweren Sparpaket zu rütteln. Unionsfraktionsvize Ingrid Fischbach sagte dem Abendblatt: "Wir dürfen nicht nur die Neuverschuldung im Blick haben. Wir müssen auch die Altschulden im Haushalt abbauen." Wenn man verantwortungsvolle Politik machen wolle - gerade auch für unsere Kinder und Enkelkinder - dann führe an den Sparmaßnahmen kein Weg vorbei. "Das geplante Sparvolumen muss bleiben", forderte Fischbach. Sie sei dafür, den zweistelligen Milliarden-Mehrbetrag "vollständig" in die Haushaltskonsolidierung fließen zu lassen. "Wir wissen nicht, wie es mit der Wirtschaft weitergeht. Deshalb dürfen wir jetzt keine Begehrlichkeiten wecken, die wir schon in einem Jahr vielleicht nicht mehr decken können."

Finanzstaatssekretär Hartmut Koschyk (CSU) betonte, dass der Zuwachs der Steuereinnahmen ohnehin nichts am Rekorddefizit des Bundes im kommenden Jahr ändere. "Wir werden mit Sicherheit auch im Jahr 2011 eine Rekordneuverschuldung des Bundes haben", sagte er. Konjunkturell bedingte Mehreinnahmen bedeuteten nicht, dass das strukturelle Defizit abnehme. Gerade dies verlange aber die Schuldenbremse im Grundgesetz. Auch FDP-Finanzexperte Volker Wissing warnte: Wichtig sei, "dass die Bundesregierung sich von den zusätzlichen Einnahmen nicht zu neuen Ausgaben verleiten lässt". Das ungewöhnlich große Einnahmeplus erklärt sich durch die bisherige Konjunkturprognose der Regierung. Bislang ist sie von einem Wachstum um 1,4 Prozent in diesem und 1,6 Prozent im nächsten Jahr ausgegangen. Morgen wird Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) den neuen Ausblick vorlegen. Die neue Steuerschätzung wird am 4. November vorgelegt.

Während die Steuerschätzer bereits davon ausgehen, dass neben Bund und Ländern auch die Kommunen davon profitieren, warnt der Deutsche Städtetag vor zu viel Optimismus. Der Spitzenverband für 4300 Städte und Gemeinden mit insgesamt 51 Millionen Einwohnern hofft jedoch, dass die nächste Steuerschätzung dem Bund Spielräume eröffnet, die Kommunen durch die geplante Gemeindefinanzreform finanziell zu entlasten. Hauptgeschäftsführer Stephan Articus sagte dem Abendblatt: "Wenn sich durch die Steuerschätzung neue Spielräume ergeben, sollte der Bund diese auch für die Kommunen nutzen"

Articus begründete seine Forderung mit der weiterhin dramatischen Finanzlage der Städte: "Wir freuen uns über jeden Zuwachs bei den Steuereinnahmen. Aber eine Erholung der Kommunalfinanzen ist nach der schweren Finanz- und Wirtschaftskrise und den erheblichen Rückgängen durch Steuerrechtsänderungen nicht in Sicht." Erstens kämen die Städte bei den Steuereinnahmen von einem sehr niedrigen Niveau, und zweitens sei die überbordende Belastung der Kommunen mit Sozialausgaben das Hauptproblem. "An dieser Stelle muss der Bund dringend handeln, ohne uns auf der Einnahmenseite zu schwächen", forderte der Hauptgeschäftsführer.

Articus sagte weiter, die Gemeindefinanzkommission müsse im Herbst mutige Schritte unternehmen, um den kommunalen Haushalten wieder Luft zu verschaffen. In drei Punkten müssten die Kommunen von Sozialausgaben entlastet werden, so Articus. Demnach fordert der Städtetag eine höhere Beteiligung des Bundes an den Unterkunftskosten für Langzeitarbeitslose, eine höhere Beteiligung beziehungsweise eine Übernahme der Kosten der Grundsicherung im Alter und die Einführung eines bundesfinanzierten Leistungsrechts für Behinderte.

Diese drei Ausgabenposten führten zu fortwährenden Kostensteigerungen bei den Kommunen, sagt Articus. Allein zwischen 2006 und 2010 seien die kommunalen Sozialausgaben um mehr als fünf Milliarden Euro gestiegen. Bis zum Jahresende werden mehr als 42 Milliarden Euro an Sozialausgaben erwartet. "Die Finanzlage vieler Städte ist katastrophal. Das weisen nicht nur die bisher nie dagewesenen zweistelligen Milliardendefizite der Kommunen ab 2010 aus, sondern auch der enorme Anstieg der Kassenkredite", so Articus.

Mit diesen Krediten, die eigentlich nur kurzfristige Engpässe überbrücken sollen, müssten die Kommunen inzwischen in einem Umfang von fast 40 Milliarden Euro laufende Ausgaben zum Beispiel für Kinderbetreuung oder andere soziale Aufgaben finanzieren, rechnete der Hauptgeschäftsführer vor.