Das Internetportal WikiLeaks enthüllt unbekannte Protokolle aus dem Afghanistan-Krieg und bringt die USA massiv in Bedrängnis.

Die Beweislast der Dokumente wiegt tonnenschwer. Exakt 91 731 meist geheime Protokolle über den Krieg in Afghanistan sind gestern öffentlich geworden. Sie sind frei im Internet verfügbar, weltweit für jedermann einsehbar. Und damit ein Albtraum für das US-Militär und eine Blamage für die Geheimdienste. Und sie bringen auch die deutsche Regierung in Erklärungsnot. In Zehntausenden Puzzleteilen offenbaren sie eine neue Realität vom Einsatz am Hindukusch. Authentisch und dieses Mal nicht vorab von Militär und Regierung gefiltert.

Für die Verantwortlichen ist das ein Desaster, ein medialer Super-GAU, wie sie ihn bislang noch nicht erlebt haben. Für die Öffentlichkeit aber sind die Dokumente eine neue Möglichkeit, den Krieg zu verstehen, in den nicht nur Amerika, sondern auch Deutschland verwickelt ist. Ein Krieg, der vor allem in der Bevölkerung immer mehr an Rückhalt verliert.

Die internen Einsatzberichte aus den Jahren 2004 bis 2009 wurden dem auf Enthüllungen spezialisierten Internetportal WikiLeaks aus einer anonymen Quelle zugespielt. Sie beinhalten direkte Schilderungen von Soldaten: Nüchtern formulierte Routineprotokolle dramatischer Übergriffe, Anschlagswarnungen, Berichte über Personal und Kriegsgerät, das in Afghanistan zum Einsatz kommt. Vieles ist als "geheim" gekennzeichnet. Das Nachrichtenmagazin "Spiegel" sowie die amerikanische "New York Times" und der britische "Guardian" werteten die Dokumente aus, schätzten sie als authentisch ein. In der Nacht zu Sonntag veröffentlichten die drei Leitmedien zeitgleich die Ergebnisse.

Die Deutschen zogen unvorbereitet in den Krieg

imageProblematisch sind die Akten vor allem für Amerika, lassen aber auch den deutschen Einsatz im Norden des Landes in einem neuen Licht erscheinen. Sie zeigen, so der "Spiegel", wie unvorbereitet die Deutschen in diesen Krieg zogen. Und sie machen klar, dass der Einsatz viel bedrohlicher ist als bislang angenommen: Nicht nur Aufständische, sondern offenbar auch die afghanische Bevölkerung wurde zum Kampf gegen die intenationalen Truppen mobilisiert. Die Terroristen boten den Afghanen schon Anfang 2006 Geld für provisorische Bomben, mit denen sie die Verkehrswege der Soldaten verminen sollten, wie aus Beobachtungen eines Isaf-Informanten hervorgeht. Am 31. Mai 2007 kommen Militäranalytiker zu dem Schluss, dass die Lage immer gefährlicher wird, sich das Risiko von Anschlägen zuspitzt. Im Oktober 2009 heißt es in einem Bericht, dass eine deutsche Patrouille ihre Stellung nicht ohne amerikanische Luftunterstützung halten kann - so dramatisch zeigt sich die Lage vor Ort. Und viel dramatischer, als der deutschen Öffentlichkeit bislang dargeboten wurde.

Mit der Veröffentlichung der Dokumente ist dem Portal WikiLeaks ein Coup gelungen, der international hohe Wellen schlägt. Eine Enthüllung, die das Sicherheitsinteresse von Staaten empfindlich berührt. Schon im April dieses Jahres sorgten die Macher der 2007 gegründeten Seite für Furore, als sie ein US-Militärvideo veröffentlichten, das einen Hubschrauberangriff in der irakischen Hauptstadt Bagdad zeigt. Zwölf Zivilisten kamen zu Tode. Das Perfide: Auf der Aufnahme waren die Stimmen der US-Soldaten im Hubschrauber zu hören, die den Tod der Menschen kommentierten. Wie in einem Computerspiel. Die Welt war empört.

Jetzt also wieder WikiLeaks. Eine rätselhafte Organisation, über die kaum etwas bekannt ist, außer dass sie in den letzten drei Jahren eine Fülle von Material von anonymen Zulieferern veröffentlicht hat: Informationen über den 11. September, interne Dokumente zur isländischen Kaupthing-Bank, die das Land fast in einem Bankrott getrieben hatte. WikiLeaks - dieser Name setzt sich zusammen aus der Vorsilbe "wiki", was sich an die Online-Enzyklopädie Wikipedia anlehnt, und aus dem englischen Wort "leak", was so viel heißt wie "Leck".

Kopf des Portals ist der Australier Julian Assange. Vermutlich 39 Jahre alt, das zumindest schreibt der "Spiegel". Assange ist groß, hellblond und mit dem Ruf einer überbordenden Intelligenz behaftet. Ein Genie vielleicht. Denn so sehr sich WikiLeaks der Aufklärung und der Transparenz verschrieben hat, so sehr bleiben die Macher und die Arbeitsweise des Portals im Schatten. Ganz bewusst. Noch mehr gilt das für das deutsche Gesicht der Internetseite. Es trägt eine dicke Hornbrille, einen Vieragebart und kurze braune Haare. Daniel Schmitt, der nicht wirklich so heißt und dessen genaues Alter wohl nur er selber kennt, gibt ebenfalls so gut wie gar nichts über sich preis.

Unbekannt ist deshalb auch, woher WikiLeaks die brisanten Dokumente der US-Militärs bekommen hat. Zumindest muss der Informant ein Insider gewesen sein, so viel steht fest. Er hat die geheimen Daten illegal auf einen herkömmlichen USB-Stick kopiert und an Assange und seine Leute gegeben. Aber das ist ebenso wie alle weiteren Details bloße Spekulation. Und nichts anderes beabsichtigen die Köpfe hinter dem Portal. Denn sie wollen nicht nur ihre Informanten schützen, sondern auch sich selbst. Ihr Tun ist verboten, und ihr Wissen ist für die Regierungen nun mehr denn je ein Gut höchsten nationalen Interesses.

Statt eines Terroristen wurden sieben Kinder in einer Koranschule getötet

Die Afghanistan-Protokolle setzen die US-Regierung massiv unter Druck - und das gleich aus mehreren Gründen. Einer davon sind Berichte über eine bislang unbekannte Sondereinheit, die "Task Force 373". Hinter diesem Namen verbirgt sich eine Elitegruppe aus rund 300 Soldaten, die gezielt Jagd auf Taliban und Top-Terroristen macht. Mit dem Ziel, sie entweder zu ergreifen oder direkt zu töten. "Capture/Kill" - so heißen ihre Aufträge in den Protokollen. Bei einem bislang unbekannten Zwischenfall im Juni 2007 sind allerdings statt eines Terroristen sieben Kinder in einer Koranschule getötet worden. Und die Dokumente berichten noch von weiteren, bisher unbekannten Fällen, in denen Zivilisten versehentlich durch ausländische Truppen getötet wurden.

Verständlich also, dass Washington auf die Enthüllungen harsch reagierte. Das Weiße Haus verurteilte die Veröffentlichung der Protokolle und sagte, diese "gefährden das Leben von Amerikanern und das unserer Partner". Die US-Regierung will die Dokumente zunächst untersuchen. Auch die betroffenen deutschen Ministerien setzen jetzt erst einmal auf eine Prüfung. Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) sagte: "Es muss jetzt ausgewertet werden, was es hier an neuen Erkenntnissen gibt." Im Hinblick auf die gewaltsamen Konflikte zwischen Truppen und Aufständischen sah sich Westerwelle jedoch bestätigt. "Ich habe die Lage nie beschönigt und gewarnt, dass wir mit Rückschlägen rechnen müssen", sagte er. Auch im Verteidigungsministerium von Minister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) setzt man zunächst aufs Abwarten und eine Prüfung des Materials, wie ein Sprecher mitteilte.

Im Wesentlichen bleibt Berlin jedoch der große Skandal erspart. Die Protokolle des Afghanistan-Krieges beinhalten keine Hinweise auf weitere, bislang nicht bekannte Übergriffe deutscher Soldaten auf die Zivilbevölkerung. Washington allerdings muss nun mit genau solchen Vorwürfen fertig werden.

Zu einem großen Ärgernis für die Amerikaner dürfte zudem eine weitere Enthüllung werden: Ein Teil der Dokumente beweist offenbar eine enge Zusammenarbeit zwischen den Taliban und dem pakistanischen Geheimdienst ISI. Demnach soll der ISI den Taliban und ihren Kämpfern von 2004 bis 2007 in Pakistan Unterschlupf gewährt haben. Die pakistanische Regierung, die ein Verbündeter der USA im Kampf gegen den Terror ist, wies diesen Vorwurf jedoch als "an den Haaren herbeigezogen und verzerrt" zurück. Die US-Regierung räumte allerdings ein, dass ihr die Verbindungen des ISI zu Aufständischen seit geraumer Zeit Sorgen bereitet. WikiLeaks-Gründer Assange sagte gestern, die Dokumente würden zu einem besseren Verständnis der Dinge führen, die in Afghanistan passiert seien. Sie zeigten, "dass sich der Kurs des Krieges ändern muss".

Zum Schutz der Informanten wurden einige Berichte nicht veröffentlicht

Die Durchschlagskraft der bislang geheimen Dokumente konnte sich in diesem Fall vor allem wegen der Zusammenarbeit von WikiLeaks mit den drei großen Medien "Spiegel", "Guardian" und "New York Times" entfesseln. Zwar hatten WikiLeaks-Enthüllungen auch zuvor immer wieder den Weg in die Medien gefunden, das Portal wurde jedoch nicht immer als Quelle genannt.

Am gestrigen Tag musste man sich auf die Schilderungen der drei Medien verlassen - die WikiLeaks-Seite war häufig überlastet, Internetnutzer aus vielen Teilen der Welt versuchten auf die brisanten Dokumente zuzugreifen. Auch wenn darin viele geheime Informationen enthalten sind, haben sich die Chefredaktionen von "Spiegel", "Guardian" und "New York Times" entschieden, besonders sensible Details und Namen gefährdeter Personen nicht zu veröffentlichen. "Neben der Entscheidung, welche Informationen wir publizieren, war in diesem Fall auch die Abwägung, welche Informationen wir nicht verwenden, wichtig", sagte "Spiegel"-Chefredakteur Georg Mascolo dem Internet-Branchendienst "Meedia". In den Dokumenten gehe es um eine Vielzahl sensibler Sachverhalte, "die Namen von afghanischen Informanten des US-Militärs etwa. Die gehören nicht in die Öffentlichkeit."