Norddeutsche Regierungschefs raten der Kanzlerin zu neuem Führungsstil. Kritik des Hamburger Bürgermeisters löst Verwunderung aus.

Hamburg. Kurz vor der parlamentarischen Sommerpause ist unter Ministerpräsidenten der CDU eine Debatte über das Führungsverhalten von Bundeskanzlerin Angela Merkel entbrannt. Der schleswig-holsteinische Regierungschef Peter Harry Carstensen und Hamburgs Bürgermeister Ole von Beust rieten der CDU-Vorsitzenden, ihren Führungsstil zu ändern. Unterstützung erhielt Merkel vom sächsischen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich.

+++ Leitartikel von Abendblatt-Chefredakteur Claus Strunz: Farbe bekennen, Ole von Beust! +++

"Mein Rat an Merkel ist, Fehlverhalten deutlich zu benennen", sagte Carstensen dem Hamburger Abendblatt. "Ich habe nichts dagegen, wenn auch mal auf den Tisch gehauen wird." Von den Spitzen der Koalition verlangte Carstensen mehr Selbstdisziplin. Jeder wisse, dass er mit kritischen Äußerungen die Arbeit der schwarz-gelben Koalition gefährde. "Alle müssen begreifen, dass sie für die Menschen im Land arbeiten."

Beust empfahl Merkel die Entlassung illoyaler Regierungsmitglieder. "Wenn ein Minister illoyal ist, wäre es klug, ihn rauszuschmeißen. Dann muss die Kanzlerin sagen: Ich bin der Kapitän an Bord. Ich habe jetzt dreimal gemahnt, nun fliegst du raus", sagte er der "Süddeutschen Zeitung". Er wolle niemanden loswerden. "Nur jeder sollte wissen: Wenn er wieder losschnattert, geht er ein Risiko ein." Merkel sei ihm sympathisch, weil sie nicht "dieses Gockel-Gehabe" zeige, sagte Beust. Ihre Stärke sei die nüchterne Analyse. "Aber manchmal braucht Politik Symbole. Wenn das Vertrauen flöten geht, müssen Sie auch mal auf den Tisch hauen."

Tillich dagegen nahm Merkel in Schutz. "An Führungsstärke mangelt es der Kanzlerin nicht", sagte er dem Abendblatt. "Grundsätzlich muss auch gelten: Ehe sich Union und FDP über ein Gesetzespaket verständigen, muss intern, auch mit der CSU, die gemeinsame Linie abgestimmt sein." Schwarz-Gelb ist in Umfragen nach anhaltenden Querelen, gegenseitigen Beschimpfungen und Auseinandersetzungen in Sachthemen in der Gunst der Wähler deutlich unter 40 Prozent gefallen. Eine neue Umfrage des Forsa-Instituts im Auftrag von "Stern" und RTL sieht die Union bei 31, die FDP nur noch bei vier Prozent. Auf zentralen Feldern ringen die Koalitionspartner seit Monaten um eine einheitliche Haltung. Vor allem über die geplante Gesundheitsreform lieferten sich Vertreter von CSU und FDP einen heftigen Schlagabtausch, beschimpften einander als "Wildsau" und "Gurkentruppe".

Merkel äußerte am Dienstag in einer Fraktionssitzung ihren Unmut über kritische Äußerungen aus den eigenen Reihen. Sie wolle sich Störer zur Not einzeln vorknöpfen. Der stellvertretende Vorsitzende des Arbeitnehmerflügels in der Union, Gerald Weiß, brachte einen Strafenkatalog ins Spiel. "Die Bürger verlangen Anstandsregeln. Wenn die dauerhaften Beleidigungen nicht aufhören, könnte zum Beispiel über einen Maßnahmenkatalog nachgedacht werden", sagte Weiß der "Bild"-Zeitung.

Ratschläge für die Kanzlerin kamen gestern auch aus der FDP. "Dass der Ton innerhalb der Koalition nicht angemessen war, dürfte jedem klar sein. Vielleicht bringt die Sommerpause ein bisschen Ruhe in die Diskussion", sagte der stellvertretende niedersächsische Ministerpräsident Jörg Bode dem Abendblatt. "Ich wünsche mir aber, dass Frau Merkel inhaltlich deutlicher Farbe bekennt. Wir haben an der Nordrhein-Westfalen-Wahl gesehen, dass es nichts bringt, alle Entscheidungen hinauszuzögern, weil man meint, man könne diese den Bürgern nicht zumuten." Es gebe jedenfalls genug zu tun. Dabei denke er an eine Reform der Mehrwertsteuer.

Olaf Scholz, stellvertretender Bundesvorsitzender und Hamburger Landeschef der SPD, beschrieb die Kritik an Merkel als nachvollziehbar - zeigte sich allerdings verwundert über Beust als Absender. "Dass die Kanzlerin in Schwierigkeiten ist, weil die Koalition ihre Wahlversprechen nicht einhalten kann und weil der Führungsstil von Frau Merkel mittlerweile in ihrer eigenen Partei kritisiert wird, ist offenkundig", sagte Scholz dem Abendblatt. "Dass der Hamburger Bürgermeister der Kanzlerin nun Ratschläge gibt, ist zumindest überraschend." Denn die Hamburger Bürger kritisierten an Beust und seiner Partei ebenfalls die Nichteinhaltung von Wahlversprechen. Und sie vermissten Führung, fügte Scholz hinzu - "ganz gleich, ob es nun um die Kostenexplosion bei der Elbphilharmonie, die eskalierenden Sicherheitsprobleme oder um die Schulpolitik geht".