Hohe Verwaltungskosten schmälern die Einnahmen durch die zehn Euro Praxisgebühr. Der Arznei-Report beklagt unnötige Verschreibungen.

Berlin. Die schwarz-gelbe Bundesregierung hätte schon bei den Koalitionsverhandlungen im September 2009 ahnen können, dass ihr dieses Thema noch einigen Streit bescheren würde: Weil die FDP die Praxisgebühr von zehn Euro beim ersten Arztbesuch im Quartal abschaffen will, die Union aber strikt dagegen ist, entschied man sich für einen Kompromiss: "Wir wollen die Zahlung der Praxisgebühr in ein unbürokratisches Erhebungsverfahren überführen", heißt es also im Koalitionsvertrag, der gemeinsamen Arbeitsgrundlage für die laufende Legislaturperiode.

Nur - was genau heißt "unbürokratisch"? Für die Liberalen ist die Sache klar: Das Aus der Zahlung wäre der unbürokratischste aller Wege. Die Union hingegen möchte die Gebühr beibehalten, um die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) zu entlasten und Rücklagen zu bilden. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte vor wenigen Wochen klargemacht, dass die Abschaffung derzeit kein Thema sei. Allerdings: Wenn sich die Gesundheitsminister der Länder bei ihrer Konferenz in Saarbrücken heute und morgen auf einen Hamburger Antrag für das Aus der Zahlung einigen, wird sich die Bundesregierung damit befassen müssen. Die seit Monaten schwelende Debatte nimmt damit neue Fahrt auf.

Neben der sogar gestiegenen Zahl der Arztbesuche seit Einführung der Praxisgebühr im Jahr 2004 argumentiert der Hamburger Antrag mit dem Verwaltungsaufwand. So würden die erzielten Einnahmen von 1,5 bis zwei Milliarden Euro durch zahlreiche, zum Teil versteckte Kosten deutlich relativiert, wie es in dem Papier heißt. Sowohl der bürokratische Aufwand der Einziehung und Verrechnung beim niedergelassenen Arzt als auch die nachgehende Eintreibung durch die Krankenkassen oder der Aufwand der Befreiung von der Praxisgebühr würden in verschiedenen Quellen mit 360 bis 500 Millionen Euro angegeben. "Allein dadurch, dass Bürokratie und das aufwendige nachträgliche Eintreiben ausstehender Beiträge wegfallen, würden bereits Kosten gespart", sagte Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks (SPD) dem Abendblatt. 13 Länder müssen ihrem Antrag in Saarbrücken zustimmen, damit er erfolgreich ist.

+++ "Praxisgebühr zieht Patienten Geld aus der Tasche" +++

Zudem soll es bei der Tagung der Gesundheitsminister um die Zukunft und die Akademisierung von Pflegeberufen gehen. Um dem Fachkräftemangel vorzubeugen, ist geplant, die verschiedenen Pflegeberufe von Alten-, Kranken- oder auch Kinderkrankenpflege zu einer generalistisch ausgerichteten Pflegeausbildung zusammenzuführen. "Eine generalistische Pflegeausbildung kann auf die Anforderungen an die Pflege in den verschiedenen Arbeitsfeldern, egal ob es um Alten- oder Krankenpflege geht, adäquat vorbereiten. Damit haben wir die Chance, sowohl eine bessere Versorgung wie auch eine größere Berufszufriedenheit der Pflegekräfte zu erreichen" so Prüfer-Storcks.

Durch eine gestern veröffentlichte Studie dürfte jetzt auch noch ein weiteres Thema für die Gesundheitsminister hinzugekommen sein. Dem Arzneimittelreport der Barmer GEK zufolge verschreiben Ärzte nach wie vor zu viele unnötige oder gar risikoreiche Medikamente, gerade auch bei der Behandlung von Depressionen. Dabei erhalten Frauen zwei- bis dreimal mehr Psychopharmaka als Männer. Solche Geschlechterunterschiede seien jedoch medizinisch kaum begründbar, kritisierte der Bremer Sozialforscher Gerd Glaeske bei der Vorstellung der Studie in Berlin. "Nur die Hälfte der Frauen, die Antidepressiva bekommen, haben auch eine entsprechende Diagnose", betonte er. Als Grund vermutet der Forscher, dass Frauen in den Arztpraxen öfter als Männer von ihren Lebensproblemen berichten. "Immer da, wo Frauen eine Hilfestellung erwarten, wird in der Medizin häufig mit Arzneimitteln reagiert." Die Folge: Medikamentensucht per Rezeptblock.

Typischerweise begännen weibliche Karrieren von Medikamentensucht im Alter zwischen 45 und 50 Jahren, wenn die Kinder aus dem Haus seien, berichtete Glaeske. Im Laufe der Jahre ließen sich viele auch gesetzlich versicherte Patientinnen die umstrittenen Mittel auf Privatrezept verordnen. So kämen bis zu 60 Prozent der fraglichen Präparate zu den Patienten. Die Ärzte würden so unauffällig bleiben. Zwei Drittel der Medikamentenabhängigen seien Frauen.

Wie die Techniker Krankenkasse (TK) in ihrem ebenfalls gestern veröffentlichten Gesundheitsreport berichtet, geht die Zahl der psychischen Erkrankungen jedoch auch tatsächlich nach oben. Die so verursachten Fehlzeiten im Job seien 2011 erneut um 6,3 Prozent gestiegen. An gut zwei Tagen im Jahr war jeder Beschäftigte aus diesem Grund krankgeschrieben. Dabei handele es sich vor allem um den Dienstleistungssektor, erläuterte TK-Chef Norbert Klusen. Besonders betroffen seien die 30- bis 50-Jährigen: "Sie befinden sich beruflich häufig in der Phase, in der entscheidende Weichen für die Karriere gestellt werden", so Klusen. "Sie kümmern sich um ihre Kinder und nicht selten inzwischen auch um die Pflege ihrer Eltern."