Verbraucherministerin Aigner und Gesundheitsminister Bahr blicken auf die EHEC-Seuche vor einem Jahr zurück.

Berlin. Wochenlang suchten im Mai 2011 Behörden, Politik und vermeintliche Experten nach der Ursache für den weltweit größten EHEC-Ausbruch. Der aggressive Darmkeim traf vor allem Menschen in Hamburg und dem Umland. Rund 3800 Menschen erkrankten, 53 starben in Deutschland. Das Abendblatt begibt sich ein Jahr danach mit den verantwortlichen Politikern, Bundesverbraucherministerin Ilse Aigner (CSU) und Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP), auf Spurensuche. Beide sind überzeugt: Derartige Ausbrüche kann man nicht verhindern, aber in Zukunft kann die Politik schneller reagieren.

Hamburger Abendblatt: Frau Ministerin, Herr Minister, vor gut einem Jahr brach in Deutschland EHEC aus. Hamburg war stark betroffen. Hätte das Drama vermieden werden können? Wochenlang blieb die fieberhafte Suche nach dem Infektionsherd erfolglos.

Ilse Aigner: E-Coli-Bakterien sind seit jeher weit verbreitet in unserer Umwelt. Auch wenn wir Verbraucher uns schützen können - eine 100-prozentige Sicherheit vor EHEC kann es nie geben. In Deutschland werden jedes Jahr rund 900 EHEC-Fälle gemeldet. In dieser Schärfe und Dramatik war der Ausbruch in Deutschland allerdings einzigartig. Der Erreger, der vermutlich über Samen aus Ägypten eingetragen wurde, war außergewöhnlich aggressiv.

Daniel Bahr: Wir müssen leider weiter mit Epidemien und Pandemien rechnen. Die Natur ist erfinderisch. Das hat sich bei EHEC gezeigt. Wir wurden von diesem bisher weltweit größten Ausbruch überrascht. Wir sind da an Grenzen gestoßen. Aber man muss auch festhalten, dass für die Menschen in Hamburg und Umgebung stets die notwendige Versorgung gewährleistet war.

Wie haben Sie die Wochen der Ungewissheit persönlich wahrgenommen?

Bahr: Ich war gerade mal anderthalb Wochen Minister und befand mich an einem Sonnabend im Ministerium, als ein Anruf aus Hamburg kam. Und ich sagte mir: Oh, das wird eine Herausforderung. Die ersten Nachrichten waren so ungewöhnlich. Als Verantwortlicher hat man sofort ein Bauchgefühl und weiß, dass die nächsten Wochen einen fordern werden.

Hätte man die 53 Menschen, die an EHEC starben, noch retten können, wenn man schneller die Ursache für die Seuche erkannt hätte?

Bahr: Dafür haben wir keinen Anhaltspunkt. Wenn man früher die Sprossen als Ursache erkannt hätte, hätte man zwar früher warnen können. Allerdings hatte dieser Keim eine ungewöhnlich lange Ansteckungszeit. Wir haben aber Konsequenzen gezogen. Wir werden künftig schneller Meldungen aus Krankenhäusern und Arztpraxen bekommen. Das lief vor einem Jahr nicht immer optimal. Wir bekamen manchmal nur gebündelt alle paar Tage einen neuen Stand geliefert - per Post. Wir hatten keinen täglichen Überblick über das tatsächliche Ausmaß. Leider hält der Bundesrat eine entsprechende Änderung der Meldefristen im Vermittlungsausschuss jetzt noch auf. Die Länder müssen wissen, dass sie damit eine schnelle Einführung dieser notwendigen Regelungen aufschieben.

Aigner: Geschwindigkeit bei der Meldung von Erkrankungen ist sehr wichtig. Genauso entscheidend ist die schnelle Aufklärung der Ursache auf der Lebensmittelseite. Die Task Force, die wir eingesetzt hatten, hat sich bewährt. In 75 bis 80 Prozent der Fälle findet man nämlich nie die Ursache bei lebensmittelbasierten EHEC-Erkrankungen. Es war damals fast schon kriminalistische Kleinarbeit, um den Erreger zu finden. Dass dies nach drei Wochen gelang, ist ein großer Erfolg und hat weitere Infektionen verhindert.

Bahr: Ich kann noch immer unsere damalige Warnung vor rohem Blattsalat, rohen Tomaten und rohen Gurken in Norddeutschland frei aufsagen.

Aigner: Die Behörden sind erst durch intensive Befragungen der Betroffenen und durch die Überprüfung aller Lebensmittel-Lieferlisten und vieler Speisekarten von Kantinen und Restaurants auf die Sprossen gekommen. Davor war, aus Vorsorgegründen, eine breite Warnung vor anderen im Verdacht stehenden Produkten richtig.

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Wirklich unfallfrei war das Krisenmanagement dennoch nicht.

Bahr: Die Verunsicherung in der Bevölkerung lag auch daran, dass andere Akteure mit eigenen Theorien in die Öffentlichkeit gegangen sind.

Sie sprechen von der Hamburger Gesundheitssenatorin Prüfer-Storcks?

Bahr: Nein, es war ein vielstimmiger Chor selbst ernannter Experten. Sicherlich hat die Pressekonferenz mit der spanischen Gurke, ohne den genauen Erreger zu kennen, der auf der Gurke gefunden wurde, die Situation nicht einfacher gemacht. Es waren aber zu viele Stimmen, die sich ungefragt eingemischt haben. Als wir gerade den Hinweis auf die Sprossen bekamen, warnte mich ein Professor vor Schnittblumen. Er hätte festgestellt, dass besonders viele gut aussehende Frauen mittleren Alters betroffen seien. Und es sei ja zuvor Muttertag gewesen, bei dem man vor allem Schnittblumen verschenke.

Aigner: Wenn selbst ernannte Experten ihre absurden Theorien in den Medien verbreiten, sind wir machtlos. Länder und Bund können - was die Bündelung von Botschaften betrifft - noch besser werden, aber im Krisenmanagement, also in der Aufklärung des Geschehens und dem Verhindern weiterer Infektionen, sind keine Fehler gemacht worden.

Zuletzt sind in Hamburg wieder EHEC-Fälle aufgetreten. Wie bedrohlich ist die Seuche noch?

Aigner: EHEC-Erreger sind immer eine Gefahr für die menschliche Gesundheit. Und es wird immer mal wieder örtliche Häufungen von solchen Fällen geben. Von einer Seuche oder einem Ausbruch sprechen wir dann, wenn ein Geschehen sich ausbreitet. Und genau hier ist dann entscheidend: Bund und Länder haben die richtigen Lehren gezogen aus der Epidemie im Jahr 2011. So steht zum Beispiel unsere Task Force in jedem Falle parat mit dem ganzen Sachverstand der Behörden von Bund und Ländern.

Frau Aigner, Herr Bahr, wird man in Ihren Ämtern zu Hypochondern?

Bahr: Das darf man nicht werden! In unseren Ämtern muss man Ruhe und Gelassenheit bewahren.

Aigner: Und man lernt, Risiken zu erkennen und realistisch zu bewerten.

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Sie beschäftigen sich ständig mit Krankheit, Vorsorge, Seuchen, vergifteten Lebensmitteln. Kriegt man es da nicht selbst mit der Angst zu tun?

Aigner: Angst wäre ein schlechter Ratgeber. Jeder weiß, dass unser Leben mit Risiken verbunden ist. Wenn wir über EHEC sprechen, dann sind dies immer noch ungewöhnliche Einzelfälle, wenn auch sehr dramatische für die Betroffenen. Wichtig ist: Der Staat, aber auch diejenigen, die als Unternehmer mit Lebensmitteln umgehen, müssen alles tun, was in ihrer Macht steht, um die Verbraucher vor Gefahren zu schützen.

Bahr: Ein Minister, der gerade bei solchen Extremfällen Verantwortung trägt, darf sich nicht verrückt machen lassen. Es ist wie beim Arzt: Wenn ich krank zum Arzt gehe, will ich auch nicht, dass der nervös reagiert.

Wir erleben derzeit oft Streit in der Koalition, gerade zwischen CSU und FDP, im Moment vor allem beim Betreuungsgeld. Wie ist das zu erklären?

Bahr: Jede Partei vertritt eigene Inhalte, das ist normal. Ich rate uns dazu, sich an Vereinbarungen zu halten. Ich persönlich halte das Betreuungsgeld nicht für sinnvoll. Aber es wurde gemeinsam vereinbart. Offen ist wohl noch die Finanzierung, das müssen Finanzminister und Familienministerin klären.

Aigner: Ich fordere, dass wir uns an das halten, was ausgemacht wurde. Sonst gibt es keine Verlässlichkeit in der Koalition. Die Bundeskanzlerin hat erneut bekräftigt, dass das Betreuungsgeld kommt. Das Thema ist geklärt.

Sie haben aktuell noch ein Streitthema: Die Milliardenüberschüsse bei den Krankenkassen. Wie soll die Koalition damit umgehen?

Bahr: Bei aller Sympathie für journalistisches Interesse, Uneinigkeiten herauszustellen: Die Überschüsse sind ein Erfolg der Arbeit dieser Koalition. Wir haben die Arzneimittelausgaben um rund zwei Milliarden Euro jährlich gesenkt, davon profitiert jeder Versicherte und Patient. Wir werden in der Koalition beraten und entscheiden.

Die Uneinigkeit hat die FDP provoziert, indem sie eine Abschaffung der Praxisgebühr fordert.

Aigner: Wir können froh sein, dass wir ein gemeinsames Polster haben. Ich kann mich an Zeiten erinnern, in denen unter schlechten wirtschaftlichen Bedingungen die Sozialversicherungsbeiträge erhöht werden mussten. Dagegen sind wir jetzt gewappnet.

Bahr: Die Praxisgebühr wird in der Bevölkerung als Ärgernis wahrgenommen. Sie ist bürokratisch und erfüllt nicht ihren ursprünglichen Zweck. Die Abschaffung der Praxisgebühr wäre sicherlich die spürbarste Entlastung für die Menschen.

Es gab allerdings schon ein Machtwort der Kanzlerin dagegen.

Bahr: Die Kanzlerin hat zu Recht darauf hingewiesen, dass wir uns im Koalitionsvertrag darauf verständigt haben, dass nicht die Abschaffung der Praxisgebühr ansteht, sondern die Entwicklung eines unbürokratischen Verfahrens. Der beste Bürokratieabbau wäre aber der komplette Verzicht. Die Abschaffung bleibt deshalb Forderung der FDP. Die CSU beharrt ja auch auf ihren Themen, zum Beispiel auf der Autobahnmaut. Es gibt einen Grund, warum Ilse in der CSU und Daniel in der FDP ist. Jede Partei behält ihre eigene Vorstellung. Wir wollen ja auch nicht eine gemeinsame Partei gründen ...

Aigner: Das wäre mal eine Neuigkeit!

Bahr: ... sondern trotz manchmal unterschiedlicher Vorstellungen gemeinsam regieren.