Die Bundeskanzlerin zweifelt am angestrebten Zeitpunkt Ende 2014. Koalitionspartner FDP will jedoch am Afghanistan-Konzept festhalten.

Hamburg/Masar-i-Scharif. Angesichts der dramatischen Sicherheitslage in Afghanistan klangen die Worte der Kanzlerin wie Pfeifen im Wald: "Der Wille ist da. Wir wollen das schaffen. Und daran wird gearbeitet." "Daran" - das ist der Abzug der deutschen Truppen vom Hindukusch bis Ende 2014. Alle Nato-Kampftruppen, auch die der USA, wollen bis zu diesem Datum aus Afghanistan abgezogen sein.

Doch das Vordringen der radikalislamischen Taliban, die blutigen Unruhen nach der Koranverbrennung durch US-Soldaten und nun nach dem Amoklauf eines amerikanischen Unteroffiziers in einem Dorf hat Merkel bei ihrem Überraschungsbesuch im deutschen Feldlager Masar-i-Scharif diesen Zeitpunkt infrage gestellt und damit Verwirrung ausgelöst.

Die heikle Sicherheitslage berge große Risiken für den geplanten Abzug, sagte die Kanzlerin. Zwar habe der Versöhnungsprozess Fortschritte gemacht. Aber nicht so weit, dass man sagen dürfe, "wir können heute hier abziehen". "Und deshalb kann ich auch noch nicht sagen, wir schaffen das bis 2013/2014." Während der Bundeswehrverband Merkel für diese Aussage lobte, betonte die FDP, dass sie am geplanten Abzugstermin festhalten wolle. "Aus meiner Sicht gibt es trotz der instabilen Lage keine Veranlassung, diese Abzugsperspektive infrage zu stellen", sagte der künftige FDP-Generalsekretär Patrick Döring in Berlin.

"Ich bin immer skeptisch gewesen, was das Datum 2014 betrifft", sagte dagegen Bundeswehrverbandschef Oberst Ulrich Kirsch dem Nachrichtensender N24 in Berlin. Er bekräftigte seine Forderung, den schrittweisen Abzug der Bundeswehr "mit Augenmaß" zu gestalten. "Denn diejenigen, die heute sehr schnell bereit sind und sagen, raus aus Afghanistan, wären bei Menschenrechtsverletzungen die Ersten, die rufen würden, wieder rein nach Afghanistan", sagte Kirsch.

+++ Merkel sieht Abzug aus Afghanistan skeptisch +++

Der Außenexperte der Linken, Wolfgang Gehrke, meinte, der "Nato-Krieg" in Afghanistan mute "wie ein Amoklauf an". Der Abzug der Bundeswehr sei der einzige Weg "aus diesem Irrsinn. Davor drückt sich die Bundeskanzlerin." Gegenwärtig sind noch knapp 4900 deutsche Soldaten am Hindukusch im Einsatz. Anfang 2013 sollen weitere 500 Mann abgezogen werden. In Berlin hieß es am Nachmittag aus Regierungskreisen, Merkel habe mit ihrer Aussage den Abzugstermin "ausdrücklich nicht infrage gestellt". Grünen-Parteichef Cem Özdemir sagte in Berlin, derartige außenpolitische Fragen sollte man "möglichst gemeinsam diskutieren". "Mein Ratschlag wäre, dass sie sich zu diesem Thema schnell mit den Partei- und Fraktionsvorsitzenden auseinandersetzt."

Die Kanzlerin hatte ihren Blitzbesuch am Hindukusch - es ist ihr vierter - aus Sicherheitsgründen nicht angekündigt. Sie besuchte zunächst den Ehrenhain für die 52 in Afghanistan gefallenen deutschen Soldaten. In einem Telefongespräch sprach Merkel dem afghanischen Präsidenten Hamid Karsai ihr Beileid für die Opfer des Amoklaufs aus. Karsai habe das Engagement der Bundeswehr ausdrücklich gewürdigt. Wegen des schlechten Wetters - es herrschte Schneetreiben - verzichtete Merkel auf den geplanten Weiterflug ins deutsche Feldlager Kundus.

Auch das Besuchsprogramm von Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel (FDP), der schon am Sonntag in Afghanistan eingetroffen war, wurde wegen heftigen Schneefalls in der Region Kabul stark gekürzt.

Die amerikanischen Truppen wurde indessen in Alarmbereitschaft versetzt - sie befürchten Racheakte der Taliban. Das Ansehen der US-Truppen in Afghanistan ist mit dem Amoklauf auf einem neuen Tiefpunkt; aber auch die US-Soldaten hegen ein tiefes Misstrauen gegenüber den afghanischen Kameraden, mit denen sie zusammenarbeiten. Nach den umstrittenen Koranverbrennungen durch das US-Militär hatten Angehörige der afghanischen Armee insgesamt sechs amerikanische Soldaten erschossen. Auch Bundeswehrsoldaten sind bereits Opfer hinterhältiger Angriffe von Attentätern in afghanischer Armeeuniform geworden.

Die ausländischen Truppen und die afghanische Armee arbeiten bei Sicherheitsaufgaben eng zusammen; das sogenannte Partnering ist allerdings durch die Attentate seitens afghanischer Soldaten in Verruf geraten.

Die Nato-geführte Sicherheitstruppe Isaf bildet die afghanische Armee aus. Deren Kopfzahl soll bis 2014 mehr als 350 000 erreichen, um nach dem Abzug der ausländischen Truppen den Taliban Widerstand leisten zu können.

Allerdings gibt es den Plan, die Truppe danach schrittweise wieder auf rund 230 000 Mann zu verringern.

Die Gründe dafür sind vor allem finanzieller Art - Afghanistan kann sich eine so große Armee gar nicht leisten, und die westlichen Staaten möchten diese Streitkräfte nicht auf unabsehbare Zeit alimentieren müssen.

Die bange Frage ist jedoch, was mit den dann zu entlassenden rund 120 000 Mann geschehen soll. Einige Experten fürchten, falls für die ausgebildeten Soldaten keine andere berufliche Perspektive geschaffen werden kann, könnten sie sich frustriert den militanten Aufständischen anschließen.

Der Amoklauf vom Sonnabend könnte auch den Abschluss eines strategischen Abkommens zwischen Washington und Kabul gefährden.