Eineinhalb Jahre nach der Loveparade-Tragödie stimmen die Bürger am Sonntag über die Abwahl ihres Stadtoberhaupts Adolf Sauerland ab.

Düsseldorf. Adolf Sauerland spricht über Verantwortung. Er hat dieses Wort schon so oft gedacht, erforscht, ausgesprochen, und er hat auch erklärt, dass er moralische Verantwortung übernehme. Es verfolgt ihn. Es ist sein zweiter Schatten geworden.

+++ 79 000 Duisburger wollen die Abwahl von Sauerland +++
+++ Duisburg: Stadt der Trauer +++

Eines Abends in der Duisburger Cubus-Kunsthalle wird der Oberbürgermeister wieder einmal darüber reden. Sauerland eilt von Gast zu Gast, schüttelt Hände, hält ein Schwätzchen. Er ist gesundheitlich leicht angeschlagen. Aber er bleibt im Dienst, den Empfang des CDU-Stadtbezirks Duisburg-Mitte sagt man nicht so einfach ab. Schon gar nicht in dieser Situation. Auf den Tischen liegen Faltblätter: "Keine Experimente! Zukunft gestalten. Nein zur Abwahl von Oberbürgermeister Adolf Sauerland". Tagsüber hat eine Bürgerinitiative Faltblätter in der Fußgängerzone verteilt, auf denen gedruckt ist: "Ja! Abwahl von Oberbürgermeister Sauerland".

Ein Nein - oder doch ein Ja: Vor dieser Frage steht Duisburg am Sonntag. Die Wahlberechtigten urteilen damit über die Verantwortung des Oberbürgermeisters, über die seit eineinhalb Jahren öffentlich gestritten wird. Seit dem 24. Juli 2010. Dem Tag der Loveparade in Duisburg, bei der 21 junge Menschen starben und 500 verletzt wurden, weil Fehler passiert sind.

"Das besonders Tragische an diesem Unglück ist, dass es Menschen getroffen hat, die gerade dabei waren, ihr eigenes Leben zu finden. Es trifft das Lebensgefühl, das Herz einer ganzen Generation", sagt der evangelische Notfallseelsorger Uwe Rieske, der weiter in Kontakt steht mit Hinterbliebenen und Überlebenden.

Beim CDU-Empfang in der Kunsthalle geht es erst einmal nicht um die Katastrophe. Sauerland hält eine Wahlkampfrede. Er zählt die Erfolge der vergangenen Jahre auf, wie er und die CDU 2004 die jahrzehntelange Übermacht der SPD gebrochen haben. Dann, nach einer halben Stunde, kommt er auf die Loveparade zu sprechen. "Es war die politische Verantwortung aller 75 Mitglieder des Rates." Er sei einer von ihnen, und der Stadtrat habe sich einstimmig für die Loveparade ausgesprochen.

Die Frage nach der Verantwortung ist an ihm hängen geblieben, vielleicht schon am Tag der Tragödie, als er abends öffentlich erklärt, die Menschen seien wegen individueller Fehler gestorben, auch weil sie versucht hätten, über Sicherheitszäune zu klettern. Das waren die ersten Informationen, die er bekam. Sie waren falsch, denn die Opfer wurden in der Masse niedergetrampelt, erdrückt. Einen Tag später wirkte Sauerland in der Pressekonferenz besonders hilflos. Ihm fehlten Erkenntnisse.

Die Antreiber der Initiative "Neuanfang für Duisburg", Werner Hüsken und Theo Steegmann, betonen, dass der OB formal der Chef der Stadtverwaltung sei, die an den Vorbereitungen der Loveparade beteiligt war und sie genehmigt hat. "Wir sprechen nicht von einer persönlichen Schuld von Herrn Sauerland. Aber es geht um die Verantwortung kraft seines Amtes", sagt Hüsken. Sauerland habe dem Amt "die Würde genommen", steht im Faltblatt des Abwahlbündnisses, das von SPD, Grünen und Linken unterstützt wird. "Wir meinen, er kann Duisburg nicht mehr vertreten, weder nach innen noch nach außen." Sie verurteilen sein "peinliches Agieren" seit der Katastrophe, seine "mangelnde Sensibilität" und seine "Unfähigkeit, politische und moralische Verantwortung zu übernehmen".

Sauerland gibt zu, dass er sich aus juristischer Vorsicht nicht früher zur moralischen Verantwortung bekannt hat. Es sei schwierig gewesen, richtig zu reagieren, sagt er vor Parteifreunden: "Dass ich Fehler gemacht habe, gestehe ich gern zu." Er habe "reagiert wie ein armes Schwein", das tue ihm leid.

Es sind die ersten Tage nach der Katastrophe, die das öffentliche Bild von ihm geprägt haben - es lässt sich wohl kaum mehr ändern, so sehr Sauerland das auch versucht. Er bekommt Morddrohungen und zieht mit seiner Familie zeitweise weg aus Duisburg. Täglich fährt er 160 Kilometer, er geht zu Terminen, lässt sich mitunter ausbuhen und behält die Fassung, als ihm jemand Ketchup ins Gesicht schüttet. Er hält sich aus Rücksicht auf die Hinterbliebenen fern, als am ersten Jahrestag der Tragödie eine Trauerfeier ausgerichtet wird.

Dann sammeln Bürger mehr als 70 000 Stimmen für das Abwahlverfahren gegen ihn. Man fragt sich, was der Mensch und sein Amt noch aushalten können. Der 56-jährige frühere Lehrer betont, dass es ihm nicht um Versorgungsansprüche gehe. Er sieht keinen Grund, aufzuhören. Sauerland gehört nicht zu den Beschuldigten der Staatsanwaltschaft. Aber elf seiner Mitarbeiter sind betroffen. "Wenn ein Fehler im Aufgabenbereich der Verwaltung begangen wurde, dann muss ich mir den Schuh anziehen", sagt er auf CDU-Veranstaltungen. Aber das müssten erst Gerichte klären. Seine Partei bestärkt ihn in dieser Haltung.

Niemand vermag einzuschätzen, wie das Abwahlverfahren ausgeht. Ein Viertel aller Wahlberechtigten, 92 000 Personen, müsste das Ja ankreuzen, um Sauerland des Amtes zu entheben. Die Meinungen gehen auseinander, sogar in der CDU. Eine langjährige Christdemokratin beklagt eine "persönliche Hatz", eine andere sagt mitleidig, ein Abgang Sauerlands wäre eine "Erleichterung für ihn selbst und für die Stadt".

Auch die Hinterbliebenen der Todesopfer und die Überlebenden beschäftigt der Abwahltermin. "Da ist die Erwartung von einigen, dass ein Zeichen, ein Votum, ein Signal erfolgt", sagt Seelsorger Rieske. Der Düsseldorfer Rechtsanwalt Julius Reiter vertritt etliche Opfer und weitet den Blick auf die noch ungeklärte Schuldfrage: "Es war ein multikausaler Geschehnisablauf mit mehreren Verantwortlichen. Daher lässt sich die Schuldfrage nicht nur auf eine Person verengen."

Jürgen Hagemann ist Vater einer 18-Jährigen, die das Unglück nur knapp überlebt hat. Ihn ärgert besonders: "Herr Sauerland hat noch nie den Kontakt zu uns gesucht."