20 Millionen Tonnen Lebensmittel landen in Deutschland jedes Jahr wieder auf dem Müll. Ein Drittel davon wird beim Verbraucher zu Abfall.

Jeder zweite Salat, jede zweite Kartoffel, die in Deutschland angebaut und geerntet wird, schafft es nicht bis auf den Teller. 500 000 Tonnen Brot produzieren die deutschen Bäcker für den Müll.

20 Millionen Tonnen Lebensmittel wandern allein in Deutschland jedes Jahr auf den Müll. Auf Lastwagen gepackt, würde das eine Kolonne von Berlin nach Peking ergeben. Und geschätzt ein Drittel davon entsorgen die privaten Haushalte. Das bedeutet: Jeder Deutsche wirft statistisch Nahrungsmittel im Wert von 400 Euro im Jahr weg. Weil er zu viel eingekauft hat, zu große Portionen gekocht hat, weil es ihm nicht schmeckt oder weil er die Vorräte verderben lässt.

Alle fünf Sekunden stirbt auf dieser Welt ein Kind an Mangelernährung. Was Landwirtschaft, Handel und Verbraucher weltweit verschwenden, würde genügen, jeden hungernden Menschen auf der Welt zu ernähren.

Ein Zustand, der für die Welthungerhilfe unerträglich ist. Ihre Präsidentin Bärbel Dieckmann sagte dem Hamburger Abendblatt: "Wir müssen die Verschwendung reduzieren. Es muss weniger produziert werden, natürlich ohne dass der Handel leidet." Nicht nur Lebensmittel, die anderenorts fehlen, würden vergeudet, sondern auch die Ressourcen. Zum Beispiel: "80 Prozent des verbrauchten Wassers geht in die Landwirtschaft." Dennoch hofft Dieckmann: "Die Menschen beginnen nachzudenken. Aber gefragt sind die Wirtschaft und die Landwirtschaft. Denn die verdienen ihr Geld damit."

Der Leistungsdruck für den Verbraucher beginnt im Laden. Der Kunde, hat der Filmemacher Valentin Thurn in seinem Dokumentarstreifen "Taste the Waste" festgestellt, "will das makellose Produkt" - und das zu jeder Zeit. Die Waren sollen rein und fehlerfrei aussehen, als kämen sie aus dem Labor. Wie heute schon in einem amerikanischen Supermarkt. Die Fächer müssen immer prall gefüllt sein. Nahrungsmittel werden entsorgt, weil ihr Aussehen nicht der erwarteten Norm entspricht.

Wenn Joachim Westenhöfer einkaufen geht, denkt er schon mal über die Verschwendung nach. "Es ist unglaublich, dass wir angesichts der Tatsache, dass Millionen von Menschen hungern, Lebensmittel wegwerfen", sagt der Ernährungspsychologe, Professor an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Hamburg. "Äpfel landen im Mülleimer, nur weil sie eine Delle haben." Unser Verhältnis zu Lebensmitteln habe sich grundlegend geändert: "Die Nachkriegsgeneration hat Hunger und Nahrungsmangel noch am eigenen Leib erfahren. Für uns dagegen ist die Verfügbarkeit von Lebensmitteln selbstverständlich. Da sinkt auch die Wertschätzung."

Der direkte Bezug zur Herstellung von Lebensmitteln sei weitgehend verloren gegangen: "Unsere Eltern haben noch aus dem eigenen Garten geerntet, eingemacht und sogar geschlachtet. Sie hatten eine Vorstellung davon, wie lange die Dinge verwendet werden können. Heute vermitteln die Lebensmittel im Geschäft kein Erlebnisgefühl mehr. Ein Getränkekarton erinnert nicht an die Kuh auf der Weide, ein Fischstäbchen nicht im entferntesten an Kabeljau."

Unser Einkommen fließt nur noch zu einem geringen Teil in die Ernährung. "Statistiken besagen, dass Ende des 19. Jahrhunderts in einem Vier-Personen-Haus noch 85 Prozent des Einkommens für Lebensmittel ausgegeben worden sind", sagt Westenhöfer. Vor 50 Jahren waren es noch 40 Prozent, heute gerade mal elf Prozent. Armin Valet von der Verbraucherzentrale Hamburg sagt: "Eine Ware, die nur ein paar Cent kostet, verleitet zu dem Gedanken: Das kann man auch wegwerfen."

Viele Kunden ignorieren gern das Kleingedruckte auf den Verpackungen, die Angaben über Inhalts- und Zusatzstoffe. Sie klammern sich dagegen beinahe sklavisch an eine Zeitangabe: das Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD). Dieser Zeitpunkt aber ist lediglich eine Qualitätsgarantie des Herstellers. Damit neue Waren in schnelleren Zyklen abgesetzt werden können, verkürzen viele Produzenten die Laufzeiten des MHD. Dabei müssten zum Beispiel Obst, Gemüse und bestimmte Backwaren überhaupt nicht mit dem Frischesiegel versehen werden. Wirklich verbindlich ist nur das "Verbrauchsdatum" für leicht verderbliche Lebensmittel, bei denen tatsächlich eine "unmittelbare Gefahr für die Gesundheit" bestehen könnte.

Armin Valet sagt dazu: "In erster Linie ist der Verbraucher gefragt. Einen Joghurt, der im Kühlschrank lagert, kann ich ohne Probleme auch später essen. Man muss nur seine Sinne einsetzen. Sieht der Artikel auffällig aus, ist er gar von Schimmel befallen? Das MHD ist ein Hinweis - nicht mehr." Eine Position, die jetzt auch das Verbraucherschutzministerium offensiv vertritt: "Ist der Termin abgelaufen, bedeutet das nicht, dass man das Produkt nicht mehr essen kann", heißt es in einer aktuellen Mitteilung. Ministerin Ilse Aigner sagt: "Lebensmittel sind kostbar - wir können uns die Verschwendung nicht leisten." Ernährungspsychologe Westenhöfer glaubt, der Gedanke, der hinter dem Mindesthaltbarkeitsdatum stecke, sei trotz jahrelanger Aufklärung noch nicht bei den Menschen angekommen: "Vielleicht ist der Begriff im Englischen semantisch besser gewählt: 'Best before'." An eine Änderung der Begrifflichkeiten denkt das Ministerium nicht.

Der Handel bietet kaum noch kleine Mengen an, weil die sich nicht mehr rentieren. Eine Studie des Lebensmittelfolienherstellers Cofresco ("Toppits") ergab, dass mindestens 59 Prozent des Mülls vermeidbar sind - wegen falscher Einkaufsplanung und Lagerung. Auch Schulen, Kantinen und Krankenhäuser vergeuden 20 bis 35 Prozent ihrer Lebensmittel.

Der Verbraucher steht am Ende der Wegwerfkette. Vor ihm stehen der Handel und, ganz am Anfang, der Erzeuger. "Auch wir müssen versuchen, so wenig Lebensmittel wie möglich wegzuwerfen", sagt Diplom-Agraringenieur Rolf Winter, Geschäftsführer des Biohofes Gut Wulksfelde: "Natürlich wird auch bei uns aussortiert, was der Großhandel für unseren Hofladen liefert. Und auch in unserer Herstellung gibt es mal kleine oder missratene Kartoffeln, ebenso Abfallgetreide. Aber fast alles, das im Betrieb abfällt, kann direkt verwertet werden." Die Verantwortung der Landwirtschaft, sagt der Bioproduzent, liege in der Lagerung. Die Umweltschutzorganisation Greenpeace geht noch weiter und fordert Strafmaßnahmen für Handel und Hersteller.

Wer die Müllcontainer der Supermärkte abklappert, findet eine komplette Speisekarte. "Experimente haben gezeigt, dass es möglich ist, sich aus den Abfällen zu ernähren", sagt Psychologe Westenhöfer. Die überwiegend jungen Leute, die so etwas wagen, nennen sich "Mülltaucher", "Freeganer" oder "Containerer". Sie haben die "Occupy"-Bewegung auf eine praktische Ebene gestellt und kapern den wertvollen Müll. Sie wählen die Dunkelheit, weil Müllklau in Deutschland strafbar ist. Ein Test von "Stern TV" ergab: Auch in acht von zehn Mülltonnen deutscher Haushalte fanden sich Lebensmittel, die noch essbar waren.

Die Hamburger Tafel will es gar nicht erst so weit kommen lassen. Annemarie Dose, ihre Gründerin, hat noch gelernt: "Brot wirft man nicht weg." Die Helfer, die sich der "Essensrettung statt Essensvernichtung" verschrieben haben, sammeln jede Woche 20 Tonnen Lebensmittel bei Händlern und Herstellern ein. 1,3 Millionen Menschen erhalten in Deutschland über die Tafeln Mahlzeiten aus aussortierten Lebensmitteln, allein in Hamburg sind es 20 000 Menschen pro Woche.

Aber es bleibt nicht beim Wegwerfen allein. Die intensive Landwirtschaft vergeudet wertvolle Flächen. Allein für Futtermittel nutzt die Viehhaltung mehrere Millionen Hektar im Ausland. Und dann gibt es noch die Frage "Tank oder Teller". Rolf Winter schätzt den Teil der Ackerfläche, der für "Agrotreibstoffe" wie das umstrittene E10-Benzin genutzt wird, auf 20 Prozent. "Die Prozesse werden subventioniert, das bringt hohe Renditen", sagt er. "Aber die Flächen stehen für biologische Landwirtschaft nicht mehr zur Verfügung."

Was also kann der Bürger tun? Armin Valet von der Verbraucherzentrale rät: "Er sollte schon beim Einkauf darauf achten, dass er nur kauft, was er auch verbraucht. Er sollte sich nicht von Sonderangeboten verleiten lassen und keine Produkte kaufen, die nicht länger gelagert werden können." Und wenn doch einmal zu viel im Kühlschrank oder im Keller liege, könne das meiste noch verwendet werden. Sogar lecker, wie etwa das Buch "Kreative Resteküche" verrät, das bei der Verbraucherzentrale erhältlich ist. Valets naheliegende Forderung an die Hersteller: "Haltbarkeitsdaten, die tatsächlich den Gegebenheiten entsprechen. Lebensmittel müssen klar gekennzeichnet sein. Und wirklich abgelaufene Waren dürfen nicht irgendwo untergemauschelt werden." In der nächsten Woche veröffentlicht die Verbraucherzentrale eine Studie: Was macht der Handel eigentlich mit den aussortierten Produkten? Noch verkaufen? An die Hamburger Tafel geben? Oder wegwerfen?

Der Kunde kann schon einiges tun, wenn er sich an fünf Punkte hält:

Schreiben Sie einen Einkaufszettel.

Kaufen Sie regionale Produkte und solche der Saison.

Vernachlässigen Sie den optischen Eindruck der Ware.

Lagern Sie Lebensmittel richtig.

Verwerten Sie Reste.

"Lebensmittel sind kein Spielzeug", sagt Biolandwirt Winter. "Dafür ist am Ende jeder selbst verantwortlich. In der Generation meiner Mutter war es noch verpönt, auch nur irgendetwas wegzuwerfen. Man drehte alles um, versuchte es weiterzuverwerten." Aber der Zeitgeist prägt seine Kinder: "In dieser Gesellschaft ist alles zur Ware geworden. Wer stopft noch seine Socken, wer flickt seine Hose? Aber es gibt Tendenzen, dass die Leute wieder mehr überlegen: Was mache ich eigentlich mit meinem Geld? Wer ein gutes Stück Fleisch kauft, achtet auch darauf, was daraus wird. Es sollte jedem von uns einen kleinen Pieks geben, wenn er etwas wegwirft."

Zum Weiterlesen: Stefan Kreutzberger/Valentin Thurn: "Die Essensvernichter". Kiepenheuer & Witsch, 320 Seiten, 16,99 Euro.

Das Informationsvideo "Teller oder Tonne" des Verbraucherschutzministeriums finden Sie unter www.bmelv.de (auf der Startseite unter "Video").