502 Professoren appellieren an Ilse Aigner. Doch die Landwirtschaftsministerin will nur den Einsatz von Antibiotika bei Tieren reduzieren.

Berlin. Dass auf einmal alles zusammenkommt, hat Friederike Schmitz auch nicht geahnt, als sie am Dienstag mit einem dicken Stapel Papier unter dem Arm aus Heidelberg nach Berlin gekommen ist. Nur einen Tag ist es her, seit die Naturschutzorganisation BUND eine schaurige Bilanz zu Keimen auf Supermarkt-Hähnchen veröffentlicht hat. Nur wenige Stunden sind außerdem vergangen, seit Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner (CSU) prompt mit Plänen zur Eindämmung von Antibiotika in der Tiermast reagierte. Und jetzt sind Schmitz und ihre Mitstreiter samt Papierpacken und einer neuen Forderung an die Ministerin zur Stelle.

Friederike Schmitz ist Mitinitiatorin eines Appells "für den Ausstieg aus der Massentierhaltung", und ihr Papierstapel sind Unterschriften von 34 000 Bürgern und Prominenten. Mit 502 Professoren hat ihn auch ein gewichtiger Teil der Wissenschaftselite aus Deutschland, Österreich und der Schweiz unterschrieben. Auch 22 Hamburger Professoren sind darunter. "Es gibt keine guten Argumente und schon gar keine wissenschaftlich fundierten Argumente für die Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Form der Tierindustrie", sagt Schmitz. "Es gibt stattdessen eine Fülle von Argumenten dagegen, die sich mit dem Wissen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen stützen lassen." Ihr Appell fordert Deutschland und die EU dazu auf, die Tierquälerei zu beenden und den Umstieg auf eine sozial-ökologische Landwirtschaft voranzutreiben.

Die Unterzeichner drängen zudem auf höhere Standards im Tier- und Umweltschutz, sie wollen den Abbau der Überproduktion und eine Haltungskennzeichnung für Fleisch ähnlich der für Eier. Es ist viel verlangt, was sie da fordern, das weiß auch Schmitz. Die junge Wissenschaftlerin ist deshalb froh, wenn Ministerin Aigner den Appell wenigstens "zur Kenntnis nimmt". Persönlich ist sie an diesem Tag nicht gekommen, sondern hat einen Ministerialdirektor geschickt, der den Papierpacken entgegennimmt und verspricht, Aigner einen guten Rat zu geben, "was davon umsetzbar ist".

Für Professor Sievert Lorenzen, Zoologe von der Universität Kiel, ist der Ausstieg aus der Massentierhaltung nicht nur für das Wohl der Tiere, sondern auch für das Wohl der Menschen notwendig. "Wir müssen Landwirtschaft so gestalten, dass auch spätere Generationen genug zu essen haben", sagt er. Lorenzen ist Vorsitzender des Kieler Verbandes Pro Vieh, der denAppell von Schmitz maßgeblich unterstützt hat. Seine Argumentation: Die Massentierhaltung ist nur durch die Futtermittel-Sojabohnen aus Südamerika aufrechtzuerhalten. "Unsere Massentierhaltung hängt am Tropf der Soja-Importe". Sei damit irgendwann Schluss, gebe es bei uns auch kaum noch Fleisch - jedenfalls nicht von den Tieren, die auf die Mengen an Futter angewiesen sind, die sie derzeit bekommen. "Die Rückkehr zu einer nachhaltigen Landwirtschaft ist unverzichtbar", so Lorenzen. Die tatsächliche Entwicklung spricht jedoch eine andere Sprache: Seit 2000 hat sich die Geflügelfleischproduktion in Deutschland nahezu verdoppelt, die Produktion von Schweinefleisch ist laut Wissenschaftler-Appell um 45 Prozent gestiegen. Das Statistische Bundesamt veröffentlicht zudem regelmäßig Zahlen über die Herstellung von Tierprodukten. Die Zahl der geschlachteten Schweine war demnach im dritten Quartal 2011 so hoch wie nie zuvor. 15,2 Millionen Schweine wurden gewerblich geschlachtet, also 3,5 Prozent oder 521 000 Tiere mehr als im Vorjahresquartal.

Sowohl die Tierschützer von Pro Vieh als auch Schmitz und die rot-grüne Opposition sind deshalb mit den gestern von Aigner vorgestellten Regelungen zur Reduktion von Antibiotika in der Tiermast nicht zufrieden. Die Ministerin will das bestehende Arzneimittelgesetz so verändern, dass Antibiotika künftig nur noch zur Behandlung und nicht mehr zur Prophylaxe eingesetzt werden sollen. Darüber hinaus sollen die Befugnisse der zuständigen Kontroll- und Überwachungsbehörden der Bundesländer erweitert werden. Neben einer Ahndung von Verstößen sei auch eine weitere Verbesserung der Haltungsbedingungen für Nutztiere nötig, um Ansteckungsrisiken der Tiere untereinander zu verringern, so Aigner.

Pro-Vieh-Experte Stefan Johnigk führt die Krankheiten etwa bei Geflügel vor allem auf die Haltungsbedingungen zurück. Derzeit dürfen pro Quadratmeter 22 bis 24 Hähnchen gehalten werden. So sei aber die Luft schlecht, die Einstreu schmutzig, und die Tiere würden sich schnell mit Krankheiten anstecken. Würde man hier ansetzen, könnte auch die Gabe von Antibiotika reduziert werden, so Johnigk. Die Grünen nannten Aigners Maßnahmepaket "Flickschusterei". Nur wenn die Regierung das "System der Massentierhaltung" verlasse, werde sie den massiven Einsatz von Antibiotika wirksam bekämpfen können, sagte die Grünen-Vize-Fraktionsvorsitzende Bärbel Höhn.

Die Geflügelwirtschaft widersprach den Vorwürfen, ihr Antibiotika-Einsatz sei überzogen. Im Sommer 2011 sei eine Verringerung des Einsatzes in den kommenden fünf Jahren um 30 Prozent beschlossen worden. Die FDP-Agrarexpertin Christel Happach-Kasan nahm zudem auch den Verbraucher in die Pflicht: "Die Bereitschaft, nur Billigpreise für Fleisch bezahlen zu wollen, ist mitursächlich für die Verhältnisse bei den Geflügelhaltern."

Hintergründe zum Thema Antibiotika in der Nahrung unter www.abendblatt.de/mast