Das Brandenburger Tor - erbaut 1791. Hier wurde die Weimarer Republik ausgerufen, paradierten die Nationalsozialisten.

Berlin. Es war ein magischer Moment. Um kurz nach halb acht durchschritt Kanzlerin Angela Merkel mit ihren Gästen das Brandenburger Tor, das sich rot-gold angeleuchtet gegen den schwarzen Abendhimmel abhob. Das Wahrzeichen der deutschen Hauptstadt stand gestern im Mittelpunkt der Feierlichkeiten zum zwanzigsten Jahrestag des Mauerfalls.

Alle Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union sowie Russlands Präsident Dmitri Medwedew und die US-Außenministerin Hillary Clinton als Vertreter der ehemaligen alliierten Schutzmächte der Stadt waren nach Berlin gekommen, um an diesem historischen Tag bei den Deutschen zu sein. Die wiederum applaudierten Angela Merkel und ihren Staatsgästen herzlich, der eine oder andere wischte sich sogar gerührt die Augen.

Die Bundeskanzlerin nannte den Mauerfall in ihrer Rede am Brandenburger Tor dann eine der glücklichsten Stunden der deutschen und der europäischen Geschichte und einen der glücklichsten Momente ihres eigenen Lebens. Auch die Staats- und Regierungschefs Frankreichs, Großbritanniens und Russlands und US-Außenministerin Hillary Clinton sprachen, von Regenschirmen geschützt, am Brandenburger Tor zu den Berlinern.

Nicolas Sarkozy sagte, am 9. November 1989 habe die ganze Welt nach Berlin geschaut. "Es waren die Berliner, die die Mauer der Schande zerstört haben. Diese Mauer, die alle für unzerstörbar hielten, sie haben sie niedergerissen." Clinton sagte: "Wir wissen, dass Millionen von Herzen hinter jenen standen, die wirklich die Mauer niederrissen."



Nach den großen Worten folgte endlich der dramaturgische Höhepunkt des Abends: der symbolische Mauerfall, als 1000 überdimensionale Dominosteine auf einer Strecke von anderthalb Kilometern zwischen Pariser Platz und Potsdamer Platz zu Fall gebracht wurden. Am Brandenburger Tor wird seit 1989 die fröhlichste Beerdigung der Welt gefeiert. Und die Welt feiert immer mit, egal, ob gerade Silvester ist oder Fußballweltmeisterschaft, ob Beethoven auf dem Programm steht, Rockmusik oder Techno, denn nirgendwo sonst gibt es einen Ort wie diesen.

Einen Ort, der so lange im Brennpunkt dramatischster Weltpolitik gestanden hat und heute doch so wunderbar warm und vertraut auf uns wirkt. Wer dem frühklassizistischen Bau zum ersten Mal gegenübersteht, wird von seiner schlichten Schönheit überwältigt sein. Wer seine jüngere Geschichte kennt, wird sich des Gefühls der Ergriffenheit nicht erwehren können.

Das Brandenburger Tor, Ende des 18. Jahrhunderts auf Anweisung des preußischen Königs errichtet, verströmt nicht die elegante Kühle des Pariser Triumphbogens. Pathos ist ihm nur vorübergehend im Kalten Krieg zugewachsen: in den Jahren, in denen es wie kein anderer Bau die deutsche Teilung symbolisierte - hermetisch abgeriegelt und unerreichbar für die Menschen auf beiden Seiten der Mauer, in gleißendes Licht getaucht, sobald sich die Dunkelheit über die geteilte Stadt senkte.

Als vor 20 Jahren große Kräne die ersten Betonelemente aus der Mauer am Brandenburger Tor herauslösten, sind sich die Menschen gegenseitig in die Arme gefallen. Und niemand, der durch das Tor ging, konnte dem Zwang widerstehen, mit den Händen behutsam über den Sandstein zu fahren. Weil immer noch unbegreiflich schien, was gerade geschah. "Berlin, nun freue dich!", hat der damalige Regierende Bürgermeister Walter Momper damals gerufen.

Und offensichtlich musste man das der Stadt kein zweites Mal sagen. Herrlich unverkrampft ist das Leben seit dem Mauerfall in Berlin, wo jeder sein kann, was er will, egal ob Spießer oder Spinner. Wo jeder willkommen ist, vorausgesetzt, er bringt sich in Einklang mit der Größe der Stadt, ihren Brüchen und Abnormitäten, ihrer Unaufgeräumtheit und Unvorhersehbarkeit. Zigtausende sind so seit der Wende zu Berlinern geworden, und die meisten haben sich geschworen, nie wieder wegzugehen. Nicht weil Berlin so schön ist, sondern weil es so schön aufregend ist.

Nicht London, nicht Paris, sondern Berlin ist der magische Ort Europas, und das Brandenburger Tor ist sein Symbol für Lebenskraft und Lebensfreude. Und für die Freiheit. Weshalb der designierte amerikanische Präsident Barack Obama auch entschlossen war, im Sommer 2008 während seines Wahlkampfs am Brandenburger Tor aufzutreten. Im Bewusstsein, dass diese Bilder das gewünschte Signal aussenden würden.

Auch gestern gingen wieder Bilder um die Welt. Kanzlerin Angela Merkel, die sonst einen eher zurückhaltenden Regierungsstil pflegt, hatte die Feiern zum Jahrestag des Mauerfalls selbstverständlich ins Freie, ans Brandenburger Tor, verlagert. Wissend, dass die einmalige Kulisse es ihren hochrangigen Gästen ebenfalls gefallen würde. Und da saßen sie dann und lauschten Daniel Barenboim, wie er mit der Berliner Staatskapelle Wagner, Schönberg und Beethoven spielte. Am Ende sang Plácido Domingo die heimliche Hymne der Berliner: Paul Linckes "Das ist die Berliner Luft, Luft, Luft, so mit ihrem holden Duft, Duft, Duft, wo nur selten was verpufft, pufft, pufft". Mit diesem Ohrwurm hatte auf der Ehrentribüne offenbar keiner gerechnet, aber man sah, wie sich dort schnell ein allgemeines Vergnügen breitmachte. Die vielen Tausenden, die bereits Stunden vorher zum Brandenburger Tor gekommen waren und dort in durchdringendem Regen ausgeharrt hatten, sangen und klatschten unten ausgelassen mit.

Es waren überwiegend junge Leute aus dem gesamten europäischen Ausland, die sich am Brandenburger Tor anrühren und mitreißen lassen wollten. Von der Musik, von den Reden, von der Domino-Aktion und später in der Nacht von Paul van Dyks eigens für das "Fest der Freiheit" komponiertem "We Are One". Einem Techno-Song, der entfernt an die 89er-Hymne "Berlin, Berlin, dein Herz kennt keine Mauern" erinnerte. Seitdem ist eine Generation erwachsen geworden, die den Mauerfall nicht selbst gesehen hat und die DDR nicht mehr erinnern kann. Sie kennt das dramatische Geschehen vom November 1989, das der DDR den Untergang bereitete, nur aus Erzählungen. "Es ist ein wichtiger Teil der deutschen Geschichte", sagte eine 22-Jährige aus Oranienburg bei Berlin. "Mein Leben wäre sicher anders verlaufen, wenn die Mauer noch stehen würde."

Das Brandenburger Tor war und bleibt also der stärkste Magnet der Stadt. Und jeder, der heute eine Demonstration in Berlin veranstalten will, würde das am liebsten am Brandenburger Tor tun. Mal haben die ostdeutschen Handwerkerfrauen vor dem Brandenburger Tor einen Hungerstreik veranstaltet, mal behängte Greenpeace das Tor mit einem Transparent gegen den drohenden Irak-Krieg.

Das ursprüngliche Stadttor, mit den Insignien preußischer Machtfantasien dekoriert, ist in seiner mehr als 200-jährigen Geschichte Schauplatz von Revolten, Hochzeitszügen und Militärparaden gewesen. Und von Nazi-Aufmärschen. Mit diesem dunklen Teil seiner Vergangenheit lebt das neue Berlin gut. Dieser Teil begann bekanntlich am 30. Januar 1933, als die SA einen Fackelzug durchs Brandenburger Tor veranstaltete und damit die sogenannte Machtergreifung Adolf Hitlers feierte. Was Max Liebermann, der von seinem Atelierfenster aus zuschauen konnte, zu dem bekannten Spruch bewegte, dass er gar nicht so viel fressen könne, wie er kotzen wolle.

Das neue Berlin verdrängt diese Vergangenheit nicht. Im Gegenteil. Nur einen Steinwurf vom Pariser Platz entfernt liegt das Holocaust-Mahnmal, mit dem in der deutschen Hauptstadt an das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte erinnert wird. Dieser Zusammenklang macht es für den Rest der Welt leicht, im Brandenburger Tor das Symbol des Friedens und der Freiheit zu erkennen. Die Franzosen, die 2002 ihre neue Botschaft am Pariser Platz bezogen, hängten gestern ein Transparent an ihre Fassade: "Wir feiern mit".

Das kann man wohl sagen. Und nicht nur in Berlin. In Paris gab es parallel zum Berliner Spektakel ein großes Konzert und eine Lichtschau an der Place de la Concorde. Zugleich wurde am linken Seine-Ufer eine Schokoladenmauer installiert, die mit berühmten Mauer-Graffiti wie dem Bruderkuss zwischen Erich Honecker und Leonid Breschnew dekoriert war.

Apropos Breschnew: Am Brandenburger Tor sind in den Zeiten des Kalten Krieges auch immer wieder dessen Protagonisten aufgetreten. Im Westen US-Präsidenten wie John F. Kennedy und Ronald Reagan, im Osten Männer wie Gaddafi und Castro. Das Brandenburger Tor war eben der Ort, an dem die Blöcke ihre Grenzen markierten. Jetzt ist es der Ort, an dem die gefallenen Grenzen gefeiert werden.

Aus dem Brennpunkt deutsch-deutscher Geschichte ist ein Symbol der deutschen und der europäischen Einheit geworden.

"Aus einem Ort des Schreckens ist ein Ort der Freiheit geworden", sagte Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit gestern Abend mit Tränen in den Augen. "Ein glückliches Berlin" grüße "die Menschen in der ganzen Welt".