Psychologen haben Schul-Attentäter verglichen und ein Muster erkannt. Es passt auch auf eine 16-Jährige, die in Bonn vor Gericht steht.

Hamburg/Bonn. Tanja ist 16, als sie zum ersten Mal über Selbstmord spricht. Ihre Mitschüler informieren die Schulleitung. Man wundert sich: Tanja ist eine Einser-Schülerin, ein in sich gekehrtes Mädchen aus einer unauffälligen Familie. Ein Schulpsychologe sieht bei der Schülerin ein erhöhtes Suizidrisiko, aber kein weiteres Gefährdungspotenzial. Die Klassenlehrerin will mit Tanja am folgenden Montag sprechen.

Doch das ist zu spät. An diesem Montag, dem 11. Mai 2009, bringt Tanja in ihrem Rucksack zehn Molotowcocktails, ein langes Messer, eine Gaspistole und einen Abschiedsbrief mit ins Albert-Einstein-Gymnasium in St. Augustin bei Bonn. Auf der Mädchentoilette maskiert sie sich. Als eine Mitschülerin sie überrascht, greift Tanja sie mit dem Messer an. Erst als ein Lehrer hinzukommt, kann sich das Mädchen befreien, und Tanja flüchtet nach einem misslungenen Selbstmordversuch. Erst am Abend stellt sie sich der Polizei. Der Prozess gegen Tanja O. hat gestern begonnen.

Kip Kinkel war 14, als seine Mutter mit ihm zu einem Kinderpsychologen ging. Sie sorgte sich wegen seiner Faszination für Waffen und Sprengstoff. Der Psychologe erlebte Kip als depressiven und gehemmt-aggressiven Jungen. Durch die Einnahme des Antidepressivums Prozac habe sich Kips Zustand verbessert; auch das Verhältnis zum Vater, der sich über Kips schlechte Schulleistungen ärgerte, habe sich entspannt, attestierte der Psychologe später. Noch während der Therapie im Frühjahr 1997 kaufte Vater Kinkel seinem Sohn eine halb automatische Glock-9mm-Pistole in der Hoffnung, Kip zu einem neuen "Hobby" zu ermutigen.

Am Morgen des 20. Mai 1998 erhielt Kip eine Verwarnung von seiner Schule. Am Nachmittag erschoss er seine Eltern, am nächsten Tag eröffnete er in der Schulcafeteria das Feuer und tötete zwei Mitschüler, 25 wurden verletzt. Kip Kinkel, 15, Sohn einer unbescholtenen Mittelstandsfamilie, wurde 1998 in Oregon zu 111,5 Jahren Haft verurteilt.

Wie wird ein gehemmter, unglücklicher Jugendlicher zum Amokläufer, zum Mörder? Wie formt sich das Profil von Schulamokläufern, unter denen in seltenen Fällen auch Mädchen sein können? Jahrelang kreiste die Diskussion um Reizworte wie "Killerspiele" und "Waffenrecht". Inzwischen zeigt sich den Psychologen und Kriminologen ein anderes Bild: Die Taten haben eine lange Vorgeschichte in der Psyche der Täter. Kip Kinkel ist dafür ein prototypischer Fall. So überraschend die Amokläufe im Einzelfall auch gewirkt haben - spontan waren sie nicht.

Dr. Franz Joseph Freisleder ist Ärztlicher Direktor der Heckscher-Kliniken in München, Deutschlands größter Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dort wurden allein nach Winnenden innerhalb von vier Wochen rund 20 Jugendliche vorgestellt, die Angehörigen, Lehrern oder Jugendämtern durch Äußerungen oder Verhalten verdächtig geworden waren. Bei einigen fanden die Psychiater klare psychische Konfliktsituationen.

"Ich gehe davon aus, dass beim Täter in aller Regel eine psychische Störung vorliegt, beispielsweise eine narzisstische Störung", sagt der Kinder- und Jugend-Psychiater und Neurologe. Depressivität, Minderwertigkeitsgefühle und Empörung über erlebte Kränkungen verbinden sich zu immenser Wut. Normalerweise lernen Jugendliche, ihre Aggressionen im sozialen Umfeld abzureagieren - mehr oder weniger ruppig. Aber gerade unsichere, gehemmte Jungen haben damit Probleme. Sie weichen in eine Fantasiewelt aus, in der sich Hass und Selbsthass aufstauen.

Freisleder sieht im Ablauf vieler Schul-Amokläufe vor allem Parallelen zu einem "erweiterten Suizid": Der Täter plant den eigenen Tod bewusst ein, er will aber unbedingt andere "mitnehmen". Der Tod soll ein finaler Befreiungsschlag sein - der denkbar stärkste Abgang.

Tanja aus Bonn ist als Mädchen eine Ausnahme und auch wieder nicht. Auch sie hatte vor der Tat psychische Probleme, genauso wie Kip Kinkel, Tim Kretschmer aus Winnenden und Georg R. aus Ansbach, die sogar vor ihrer Tat in Behandlung waren.

Was geht vor der Tat in den Köpfen von Amokläufern vor? Die meisten Täter haben Tagebücher, Lebensbeichten, Anklagen hinterlassen, die Hinweise geben.

"Ich bin ein furchtbarer Sohn", schrieb Kip Kinkel auf einen Zettel. "Ich wollte, man hätte mich abgetrieben ... Niemand bedeutet mir etwas ... Ich weiß, dass alle gegen mich sind, aber keiner lacht über mich, weil alle denken, ich sei ein Psycho ... Ich wollte, ich wäre tot." Georg R. in Ansbach hinterließ auf seinem Laptop einen langen Brief voller Welt- und Selbsthass. Cho Seung-Hui, der 2007 an seiner Hochschule in Blacksburg (Virginia) 32 Menschen erschoss, schickte ein 23-Seiten-Manifest samt Video an den US-Fernsehsender NBC, in dem er sich als "gekreuzigtes" Opfer herzloser Hedonisten darstellte.

"Ein narzisstisch gestörter Mensch hat oft eine völlig verzerrte Wahrnehmung von sich und seiner Umwelt", sagt Freisleder. Die Störung kommt bei den Mitmenschen nicht unbedingt an. Allenfalls als überzogenes Anspruchsdenken: Da verlangt einer für sich besondere Bewunderung, obwohl er selbst nur austeilt.

Um Tim Kretschmer in Winnenden, Georg R. in Ansbach und Cho Seung-Hui in Blacksburg schien sich niemand besondere Sorgen zu machen, obwohl alle drei bereits psychisch auffällig waren. Cho schrieb für einen Uni-Kursus zwei Theaterstücke mit hasserfüllten Tötungsfantasien, die Kommilitonen als "albtraumhaft" und "morbide" empfanden. Nachgefragt haben sie nicht.

Warum wurden diese Stücke nicht als Botschaft verstanden? Warum sind selbst drastische "Signale" der Täter so oft von der Umwelt übersehen oder verharmlost worden?

Die Antwort liege im Umfeld selbst, glaubt Freisleder. "Jugendliche Amoktäter stammen in der Regel nicht aus dissozialen Verhältnissen und sind keine vorbestraften 'Straßenschläger'. Sie bewegen sich in einem geordneten mittelständischen Milieu." Es ist ein Milieu, in dem niemand mit Gewaltexzessen rechnet, in dem Leistungen erwartet werden und in dem psychische Ausnahmezustände außerdem ein Tabu sind. "Eltern oder Freunde reden sich ein: Der tut nur so, der macht halt grauenhafte Zeichnungen, stößt Drohungen aus oder schreibt solche Stücke, um zu provozieren."

Amokläufer fühlen sich den Erwartungen der Umwelt nicht gewachsen. Ihr "geknechtetes" Ego sehnt sich nach einer Heldenpose. Deshalb inszenieren sie ihre Tat so sorgfältig wie ein Bühnendrama: Sie beschaffen zum Teil schon Monate zuvor Requisiten (Waffen), berechnen Wege und Hindernisse, kostümieren sich als Desperados mit Masken, schwarzen Mänteln oder paramilitärischer Kleidung.

Ermittler und Psychologen fragen sich immer wieder, warum auch diese aufwendigen Vorbereitungen fast immer unbemerkt blieben. Es scheint, als habe die Täter eine erschreckende Einsamkeit und Sprachlosigkeit umgeben. So als seien sie irgendwann in der Pubertät in einem "schwarzen Loch" verschwunden, ohne dass es jemandem auffiel.

In deutlichen Worten bringt der Abschlussbericht der thüringischen "Kommission Gutenberg-Gymnasium" auf den Punkt, was auch für andere Amokfälle gilt: Freunde, Lehrer, Schützenverein, aber auch die Eltern hätten im Umgang mit dem Täter eine fatale "Oberflächlichkeit und Gedankenlosigkeit" an den Tag gelegt. Keiner von ihnen habe "ein Gespür für seine Persönlichkeitskrise" erkennen lassen.

"Das muss nicht einmal böser Wille sein", gibt Freisleder zu bedenken. Einen Faktor hält der erfahrene Gerichtsgutachter jugendlicher Gewalttäter für bisher unterbewertet: das Verhältnis der männlichen Täter zum Vater.

Naturgemäß wird die "Größe" des Vaters von jedem Jungen in der Pubertät neu bewertet, er bleibt aber eine wichtige Orientierungsperson. Das gilt auch im negativen Sinn: Jugendliche, die immer wieder als Gewalttäter auffallen (auf der Straße oder in der Schule), haben häufig eine hoch problematische Beziehung zu dem ebenso gewalttätigen Vater.

Bei jungen Amoktätern war die Vaterbeziehung aber in der Regel nicht von Gewalt geprägt. Freisleder vermutet eher das andere Extrem: "Es ist nicht abwegig, dass Vater und Sohn sich charakterlich ähneln, dass beide Kontakt vermeidende, zurückgezogene Menschen sind, die sich anschweigen und schwer aufeinander zugehen können."

In der Folge verlieren Vater und Sohn ihre emotionale Verbindung. Sie umkreisen einander wie Trabanten, die sich nicht berühren. In solcher Ahnungslosigkeit haben die Väter von Kip Kinkel und Tim Kretschmer ihren schon psychisch angeknacksten Söhnen Waffen und Munition gekauft. Kinkels Vater bezahlte es mit dem Leben.

Aber auch die Gleichaltrigen spielen eine Rolle. In der Pubertät wird es für Jugendliche enorm wichtig, was die Mitschüler und Mitschülerinnen sagen. Freisleder hat seit einigen Jahren den Eindruck, dass die "Kumpelkultur" und die Solidarität unter Jugendlichengruppen immer schlechter funktionieren. "Wir haben heute eine Ausgrenzungskultur, die ein Abbild der Erwachsenenwelt ist", sagt er. "Wer als Amateur auf die Bühne geht und fertiggemacht wird, hat selbst Schuld - diese Philosophie bekommt heute jeder Jugendliche durch Castingshows mit." Mitgefühl oder Fairness spielen keine Rolle, wenn Zehntausende gnadenloser Teenager-Juroren per TED abstimmen. Das Muster wird in den Alltag übernommen. Und es trifft vor allem die "Sonderlinge".

Es scheint, als sei der Schul-Amoklauf ein Ausdruck unserer Zeit. Ein Verbrechen, das zeittypische Defizite offenbart: die Hilflosigkeit vieler Eltern und Lehrer, Jugendliche gerade während der Pubertät zu stützen und aufzufangen; das zunehmende "Verschwinden" der Väter von der Bühne der Erziehung; Konkurrenzdruck und Ausgrenzung an der Schule und im Umgang miteinander; der unkritische, wertelose Umgang mit Gewalt. All das sind Faktoren, die einer positiven Persönlichkeitsbildung entgegenwirken.

Die Medien spielen nach Auffassung von Jugendpsychologen eine wichtige Rolle, wenn es um Schul-Amokläufe geht. Inzwischen wissen die Experten, dass das Blutbad zweier Jungen 1999 an der Columbine Highschool eine Zeitenwende markierte: Es war das erste wirklich "globalisierte" School Shooting, dessen Bilder über alle TV-Sender und im Internet liefen. Columbine wurde für spätere School Shootings zu einer ikonografischen Vorlage. Der Fall Kip Kinkel wurde es nicht, weil keine Kameras dabei waren. Inzwischen steigt nach jedem bekannt gewordenen School Shooting die Zahl der Nachahmer steil an. Jeder Amoklauf wirkt auf psychisch bereits gefährdete Jugendliche wie ein Fanal, nun selbst "Ernst zu machen".

"Einen solchen Nachahmungssog kennen wir auch nach Jugendlichen-Suiziden", sagt Freisleder. Seit den 90er-Jahren gibt es deshalb zwischen Polizei und Medien eine Vereinbarung, über Selbstmorde von Jugendlichen nicht zu berichten. Das Problem ist: School Shootings mit mehreren Toten lassen sich nicht verschweigen.