Der Vizekanzler verteidigt in Berlin sein Programm. Sachlich, solide und mit einem Appell an den Anstand. Beobachtungen von Barbara Möller.

Franz Müntefering schaut man in diesen Tagen besser nicht an. Zusammengesackt wirkt der Mann, schwunglos, um nicht zu sagen: lustlos. Und wer gestern mitbekam, wie der SPD-Parteivorsitzende im Zeitlupentempo mit den Fingerspitzen der rechten Hand die Fingerspitzen seiner linken Hand beklopfte, als sich Frank-Walter Steinmeier erhob, um eine der wichtigsten Reden seines Lebens zu halten, der kann den Kanzlerkandidaten eigentlich nur bedauern. Enthusiasmus sieht wahrlich anders aus.

atsächlich kann einem Steinmeier fast schon leid tun. Selten hat ein Kanzlerkandidat so deutlich auf verlorenem Posten gekämpft wie dieser. Die Umfragen sind entmutigend, viele Genossen wären inzwischen schon froh, wenn es nach dem 27. September wenigstens mit der Großen Koalition weiterginge, und die Wahlkampfberater ...

Tja, die Wahlkampfberater. Ein normaler Mensch hätte sie längst in die Wüste geschickt. Leute, denen es nicht gelungen ist, die schmidtsche Dienstwagenaffäre kurz und schmerzlos aus der Welt zu schaffen. Die es für eine gute Idee halten, eine No-Name-Genossin gegen Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen in Stellung zu bringen. Leute, die den Wählern vorgaukeln wollen, dass es 2020 in Deutschland keine Arbeitslosigkeit mehr geben wird, wenn sie am 27. September ihre Kreuze bei der SPD machen.

Aber Mitleid ist natürlich das Letzte, was ein Kanzlerkandidat gebrauchen kann. Und deshalb gibt sich Steinmeier zuversichtlich. Morgens beim Frühstück mit den Journalisten, abends bei der großen Rede im Berliner Stadthaus. Beide Male geht es darum, zu retten, was noch zu retten ist. Von der Jobwunder-Vision, die zwar eingeschlagen ist, aber nicht so, wie man sich das im Willy-Brandt-Haus erhofft hat. Morgens wehrt sich der Kandidat gegen den Vorwurf, "naiv" zu sein, abends hängt er an die lange vorbereitete Rede den Satz an, es gehe nicht um billige Versprechen, sondern um die richtige Perspektive und anspruchsvolle Ziele.

Von Frank-Walter Steinmeier heißt es, er sehe aus, wie sich die Deutschen einen Kanzler vorstellen. Stimmt. Der Mann, der Angela Merkel ablösen will, ist zweifellos intelligent, er ist korrekt und immer höflich und zuweilen sogar witzig. Als einer der Berater morgens beim Frühstück den Eindruck hat, dass Steinmeier zu leise spricht, will Steinmeier wissen, ob das stimme. "Nein? Dann muss der Herr Steg wohl sein Hörgerät ein bisschen aufdrehen!"

Steinmeier ist Diplomat. Er trägt doppelte Manschetten und gestreifte Krawatten. Seine Schuhe sind so gut geputzt, dass sie auf dem Parkett schon mal einen hauchdünnen schwarzen Streifen hinterlassen. Der geborene Wahlkämpfer ist Frank-Walter Steinmeier nicht.

Aber ein Kämpfer. Anders als der Parteichef lässt sich der Kanzlerkandidat nicht anmerken, dass die Sache nicht gut läuft. Frank-Walter Steinmeier ist selbst zu denen noch höflich, die in ihn schon abschreiben wollen. Es stimmt. Frank-Walter Steinmeier sieht so aus, wie sich die Deutschen einen Kanzler vorstellen. Steinmeiers Problem ist, dass die Deutschen schon Angela Merkel haben.

Den gestrigen Tag hat Steinmeier mit der gewohnten Contenance hinter sich gebracht. Obwohl es ihn furchtbar gewurmt haben muss, dass sein "Deutschland-Plan" schon niedergemacht wurde, bevor er ihn abends in einer Grundsatzrede vortragen konnte. Im Alten Stadthaus, in dem nach dem Mauerfall die Konditionen des deutschen Einigungsvertrags ausgehandelt wurden. Vor 300 geladenen Gästen der Karl-Schiller-Stiftung, von denen sich immerhin einige aus dem kirschroten Gestühl erhoben, als Steinmeier den berühmten "Bärensaal" betrat.

Eine Stunde lang hat Steinmeier gesprochen. Hat erklärt, dass das neue Wachstum vor allem aus "grünen" Technologien kommen soll, aber auch, dass er von der Unterteilung Alt und Modern nicht viel hält.

In diesen Tagen höre man oft, "Stahl, Chemie, Maschinen und Autos, das war alles mal". Heute zähle nur noch Google. Das sei falsch. Ein gefährlicher Irrtum. "Wir brauchen beides: Google und Thyssen, SAP und Daimler." Bei der bevorstehenden Bundestagswahl gehe es "nicht nur um Steinmeier oder Merkel", "nicht nur um Rot, Grün, Schwarz oder Gelb". Sondern darum, "wie Deutschland in den nächsten zehn bis 20 Jahren, in den Jahren nach der Krise aussehen soll".

Es war eine typische Steinmeier-Rede. Sachlich, solide, ohne Überraschungen, weil man die Inhalte ja schon vorab kannte, aber dafür mit einem Appell an den Anstand. Da, wo er herkomme, hat Steinmeier gesagt, verstünden die Menschen nicht viel von der globalisierten Finanzwelt. "Aber sie spüren sehr genau, wenn etwas aus den Fugen gerät. Und es gibt einen Begriff, der bei ihnen zählt: Anstand nämlich. Anstand wollen sie auch in ihrem Betrieb, in ihrer Hausbank, von allen da oben. Wenn das nicht mehr gilt, entstehen Misstrauen, Empörung und Wut. Und wenn Anstand auf Dauer nicht mehr gilt, zerreißt das die Gesellschaft!"

Das war der stärkste Augenblick des Abends. Und als das Berlin Shimmy Orchestra, das man für die musikalische Umrahmung engagiert hatte, anschließend mit dem Klassiker "Yes, Sir, That's My Baby" loslegte, machte sich fast so etwas wie Optimismus breit.

Der SPD-Kanzlerkandidat hat Berlin heute Morgen den Rücken gekehrt. Er hat seine "Sommerreise" begonnen, die ihn im August durch 14 Bundesländer führen wird. Auf dieser Tour wird Frank-Walter Steinmeier nun seinen "Deutschland-Plan" (offizieller Titel: "Die Arbeit für morgen - Politik für das nächste Jahrzehnt") in Universitäten und in Arge-Projekten, in Biergärten und Hightech-Betrieben vorstellen.

Er habe vor, sich in den nächsten Wochen anhand konkreter praktischer Beispiele einen Eindruck davon zu verschaffen, wie man das Land nach der Krise in die Zukunft führen könne, hat Frank-Walter Steinmeier gestern gesagt. Und hinzugefügt, er wolle auf "starke Frauen treffen, die in Ingenieurs- und Technikerberufen an der Welt von morgen bauen". Auf "Forscher, die heute die Technologien von morgen entwickeln". Auf "Unternehmer, die sich bewusst für Deutschland als Standort industrieller Produktion entscheiden". Auf "Gründer, die mutige und innovative Ideen umsetzen und damit Arbeit schaffen". - "Und auf viele andere mehr!"

Aber vor allem will der Kanzlerkandidat auf seiner Sommerreise vermutlich nicht mehr auf die lustlosen Genossen aus seiner Berliner Parteizentrale treffen.